Antikes Assyrien bietet neue Einblicke in die Bedeutung der Etikette
Etikette wird oft als triviale, formale oder mechanische Formalitäten angesehen, die Menschen befolgen sollen, weil die Gesellschaft es so will. Allerdings sind die Dinge komplizierter, als sie erscheinen mögen. „Etikette spiegelt die Art und Weise wider, wie Menschen handeln, sind und sich fühlen“, kommentiert Ludovico Portuese, Projektkoordinator von GALATEO, der an der Universität Messina in Italien tätig ist. „Diese Regeln sind oft mit tiefgreifenden sozialen und politischen Veränderungen verbunden. Die Untersuchung der Etikette trägt daher maßgeblich dazu bei, soziale Veränderungen zu beleuchten und Beziehungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen zu verstehen.“
Die Bedeutung von Etikette im antiken Nahen Osten
Das Team vom Projekt GALATEO nutzte Etikette, um Veränderungen im menschlichen Verhalten, im Zusammenspiel zwischen Geschlecht und Status und in der Art und Weise, wie die Gruppenidentität zum Ausdruck gebracht wird, besser nachzuvollziehen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit lag auf dem assyrischen Reich des ersten Jahrtausends, das einen Großteil des heutigen Iran, Irak, der Levante, der Türkei und sogar Ägypten umfasste. „Wir wollten nachvollziehen, welche Bedeutung Etikette im antiken Nahen Osten hatten und inwieweit sie die nachfolgenden Kulturen bis zum heutigen islamischen Zeitalter beeinflusst haben“, bemerkt Portuese. Portuese sammelte archäologische, visuelle und textliche Belege und suchte nach Hinweisen auf Etikette. Diese Äußerungen wurden im Zusammenhang mit den damaligen gesellschaftlichen Veränderungen und im Hinblick darauf analysiert, wie sie Gruppen vor bedrohlichen äußeren Einflüssen schützen könnten.
Was ist der Grund für die Einhaltung der Etikette?
Im Rahmen des über die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen unterstützten Projekts konnte ein enger Zusammenhang zwischen Etikette, Gesundheitszustand und sozialem/politischem Wandel festgestellt werden. Portuese konnte auch neue Erklärungen für zwei wichtige, dominante Gesten in assyrischen Skulpturen und Kunstwerken bieten – das Falten der Hände und den Zeigefinger. „Unsere Analyse der Etikette deutet darauf hin, dass es sich nicht um religiöse Gesten handelt, wie bisher angenommen“, fügt er hinzu. „Die Geste des Händefaltens zeigte vielmehr an, dass die Hände aktiv waren und die Aufgaben erfolgreich erledigt wurden. Der Zeigefinger war lediglich ein Mittel, um auf bestimmte Abschnitte in beschrifteten Texten oder Bildern hinzuweisen.“ Mit dieser Arbeit konnte Portuese die Etikette – ein Begriff, der erst in den 1580er Jahren in Frankreich aufkam – in Assyrien als eine Reihe von Konventionen neu definieren, die den Umgang der Menschen untereinander regeln. „Wir konnten den Grundgedanken erfassen, dass sich Menschen im alten Mesopotamien ebenso wie heute an Regeln der Etikette halten, weil sie fürchten, aus einer Gruppe ausgeschlossen oder geächtet zu werden“, so seine Einschätzung. „Angst ist wohl der eigentliche Grund, der die Menschen dazu bringt, gesellschaftliche Regeln zu übernehmen und sich ihnen anzupassen.“
Gesellschaftliche Regeln und Bräuche verstehen
Portuese ist bestrebt, seine Erkenntnisse und Ideen einem breiten Publikum zur Verfügung zu stellen. Er erstellt derzeit einen Online-Atlas, der ein offenes Archiv für das Verständnis von Etikette werden soll. „Ich möchte meine Erkenntnisse auch dem nicht fachkundigen Publikum in Form von Ausstellungen, Zeichnungen und Geschichten präsentieren“, äußert er. Portuese hofft außerdem, dass sich seine Forschungen positiv auf die westliche Wahrnehmung des antiken und modernen Nahen Ostens auswirken und den Weg für ein besseres Verständnis der verborgenen Gründe hinter gesellschaftlichen Regeln und Bräuchen ebnen werden. „Unsere jüngsten Erfahrungen mit der COVID-19-Pandemie bieten ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit, die Bedeutung von Regeln der Etikette zu verstehen“, stellt er fest. „Die Regeln der Etikette wurden im Wesentlichen untergraben und erneuert, da die Pandemie die sozialen Beziehungen und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, veränderte.“
Schlüsselbegriffe
GALATEO, Assyrien, Kultur, Etikette, Naher Osten, islamisch, Bräuche