Lebenswert oder nicht: Migrationsentscheidungen angesichts des Klimawandels
Seit 1990, als der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen andeutete, dass „die gravierendsten Auswirkungen des Klimawandels die menschliche Migration beeinflussen könnten“, wurde diese Beziehung gründlich wissenschaftlich untersucht. Aufgrund der vielfältigen Dimensionen der Migration und der vielen miteinander in Wechselwirkung stehenden sozioökonomischen und ökologischen Faktoren ist es jedoch schwierig, die Beziehungen zu bemessen, um die Politikgestaltung zu unterstützen. Im Rahmen des EU-finanzierten Projekts HABITABLE kamen 22 Partner aus 18 Ländern zusammen, um Migration und Klimawandel auf der Ebene „sozial-ökologischer Systeme“ zu analysieren – komplexer, anpassungsfähiger und miteinander verbundener Systeme aus Mensch und Natur. HABITABLE konzentrierte sich auf Westafrika, Ostafrika, das südliche Afrika und Südostasien, wo die Migrationsraten sehr hoch und die sozial-ökologischen Systeme sehr anfällig für Klimaveränderungen sind. Methoden wie Erhebungen, Interviews und Dialoge mit Interessengruppen halfen den Forschenden, die Haushalte und ihre Wahrnehmungen innerhalb des breiteren sozial-ökologischen Systems zu beleuchten.
Migrationsanreize
HABITABLE stellte fest, dass die wichtigsten Motivationen für die Migration wirtschaftlicher Natur sind: Einzelpersonen und Haushalte wandern häufig auf der Suche nach besseren Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommensquellen ab, um ihre Lebensqualität zu erhöhen. Auf diese wirtschaftlichen Gründe folgten familiäre Erwägungen, wie die Familienzusammenführung oder die Sicherstellung einer besseren Versorgung von Familienmitgliedern, und Bildungswünsche – der Zugang zu einer hochwertigen Ausbildung war ein wichtiger Beweggrund. Umweltfaktoren wurden aber nur selten als Hauptgrund für Migrationsentscheidungen genannt. Projektkoordinator François Gemenne von der Universität Lüttich fasst zusammen: „Sozioökonomische Faktoren dominieren die Migrationsentscheidungen; Umweltschocks verschärfen bestehende sozioökonomische Anfälligkeiten und bestimmen die Migrationsentscheidungen durch sozioökonomische Anreize.“
Kipppunkte für klimabedingte Migration
Statistische Analysen neuartiger Längsschnittdaten belegen das Vorhandensein sozialer Kipppunkte auf Haushaltsebene für die klimabedingte Migration, die von sich überschneidenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst werden. Arme, ressourcenabhängige landwirtschaftliche Haushalte stoßen schneller an ihre Grenzen, was zur Migration führt, während wohlhabendere Haushalte länger überleben können. Menschen, die sich selbst als weniger wohlhabend einschätzen, verfügen mit größerer Wahrscheinlichkeit über keine proaktiven Bewältigungsstrategien und berichten über ein geringeres Wohlbefinden aufgrund der Umweltzerstörung. „Diese Ergebnisse verdeutlichen, wie Migrationsentscheidungen und ‚Kipppunkte‘ vom lokalen Kontext und der individuellen Wahrnehmung der sich verändernden Risiken abhängen. Besorgniserregend ist, dass die gemeinschaftsbasierten Bewältigungsmechanismen und die soziale Widerstandsfähigkeit insgesamt schwächer werden, da die Klimaauswirkungen ganze Gemeinschaften betreffen und die gegenseitige Unterstützung immer schwieriger wird“, erklärt Gemenne. Kipppunkte auf Gemeinschaftsebene haben sich noch nicht herauskristallisiert, könnten aber mit der Verschärfung der Klimaauswirkungen auftreten.
Geschlechtsspezifische und die soziale Gerechtigkeit betreffende Dimensionen von Klimawandel und Migration
Der Klimawandel verschärft Ungleichheiten, die wiederum die Reaktionen der Migrierenden beeinflussen; die Migration selbst kann diese Ungleichheiten entweder verringern oder vergrößern. Eine empirische Untersuchung von 120 von Fachleuten begutachteten Artikeln und neue qualitative Erkenntnisse haben verdeutlicht, dass politische Maßnahmen die Gleichstellung der Geschlechter und die Gleichberechtigung berücksichtigen und für die breiteren Auswirkungen der Migration sensibel sein müssen, damit die Migration für alle gleich ist. Die Anpassung ist ebenfalls geschlechtsspezifisch. In Ost- und Westafrika beispielsweise wenden Haushalte, in denen Frauen an Berufsgruppen wie landwirtschaftlichen Genossenschaften beteiligt sind, mehr Anpassungsstrategien an als von Männern geführte Genossenschaften. Frauen und Jugendliche haben allerdings oft keine Entscheidungsgewalt über Ressourcen und Migration. Wenn Männer im erwerbsfähigen Alter abwandern, können Frauen ohne Einkommen zurückbleiben, wodurch sich ihre Lebensbedingungen weiter verschlechtern. „Da die Klimarisiken zunehmen, gibt es auf mehreren Ebenen der Gesellschaft Kipppunkte für die Migration. Um lebenswerte Gemeinschaften, nachhaltige Existenzgrundlagen und kollektives Wohlergehen zu gewährleisten, bedarf es umfassender und flexibler politischer Maßnahmen in Verbindung mit einer Governance auf mehreren Ebenen, die Gemeinschaften dabei unterstützt, zu gedeihen und sich gleichzeitig an unterschiedliche Migrationsmuster und Anfälligkeiten anzupassen, wenn sich die Bedingungen sozialen Kipppunkten nähern oder diese überschreiten“, fasst Gemenne zusammen. Weitere Informationen sind in den Berichten und von Fachleuten begutachteten Artikeln und über die Podcasts auf der HABITABLE-Website zu finden.
Schlüsselbegriffe
HABITABLE, Migration, Umwelt, Migrationsentscheidungen, Klima, sozioökonomisch, Afrika, Klimawandel, sozio-ökologische Systeme, Anpassung, Abwanderung, Südostasien