Jenseits der Grenzen des Wissens in der osmanischen Kultur der frühen Neuzeit
Vom 14. bis zum 20. Jahrhundert erstreckte sich das osmanische Reich über einen Großteil von Südosteuropa, Westasien und Nordafrika. Vom frühen 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert gehörten auch Teile des südöstlichen Mitteleuropas dazu. Trotz des bedeutenden Erbes ist die osmanische Kulturgeschichte laut Marinos Sariyannis vom Institut für Mittelmeerstudien in Griechenland ein relativ neues Forschungsgebiet. „Fragen der Kultur wurden erst ab dem späten 20. Jahrhundert untersucht, besonders die wissenschaftlichen und religiösen Entwicklungen“, sagt Sariyannis, der Projektkoordinator von GHOST, das über den Europäischen Forschungsrat finanziert wurde. Inspiriert durch Folklore hat das GHOST-Team untersucht, wie einzelne soziale kulturelle Gruppen im osmanischen Reich das „Übernatürliche“ und „Irrationale“ betrachteten, um Wandel der sozialen Dynamik im Laufe der Zeit aufzuzeigen. „Mein Interesse wurde durch Vampirgeschichten aus osmanischen Archiven geweckt, aufgrund derer ich erforschte, wie sich eine religiöse Kultur mit Traditionen auseinandersetzt, die scheinbar im Widerspruch zur Vorstellung von Vampiren stand“, erklärt Sariyannis.
Semantische Verschiebungen bei der Interpretation von Phänomenen
Sariyannis interessierte sich hauptsächlich dafür, inwieweit Paradigmen der „Aufklärung“ oder „Entzauberung“ (in der westeuropäischen Geschichtsschreibung beide wichtig) im osmanischen Reich anwendbar waren. Ein Ansatzpunkt war dabei die Debatte, ob es eine äquivalente „islamische Aufklärung“ oder sogar eine „wissenschaftliche Revolution“ gab. „Mit Antworten auf diese Fragen könnte die osmanische Geistesgeschichte in die breitere Kulturgeschichte Westeuropas der frühen Neuzeit integriert werden“, so Sariyannis. Das GHOST-Team zeichnete den sozialen Hintergrund verschiedener osmanischer Sufi-Orden nach und achtete besonders auf veränderte Erklärungen verschiedener Phänomene ab Mitte des 17. Jahrhunderts. Mit Blick auf den Begriff „Magie“ fand Sariyannis einerseits heraus, dass sich die vorherrschende Vorstellung von Magie deutlich veränderte, ähnlich wie in der Geschichte christlicher Magie. Der frühere Fokus auf Dschinn und deren Beschwörung (dämonische oder rituelle Magie) wurde durch eine Bemühung abgelöst, die geheimen Verbindungen zwischen Sternen, Mineralien, Pflanzen usw. (Natur- oder Astralmagie) zu manipulieren. Das zeigt sich vor allem in der „Buchstabenmagie“, einer Art islamischer Kabbalistik, bei der arabische Buchstaben mit der Struktur des Universums in Beziehung gebracht und über Talismane angewendet werden. Auf der anderen Seite fand das Team Anzeichen für eine teilweise „Entzauberung“ ab Mitte des 17. Jahrhunderts, als eine eher rationalistische Weltansicht aufkam, bei der das menschliche Handeln anstelle von Schicksal oder übernatürlichen Kräften hervorgehoben wurde. Überraschenderweise und etwas paradoxerweise vertritt Sariyannis die Ansicht, dass dieser Umschwung mit legalistischen oder „fundamentalistischen“ Bewegungen einherging. Diese wollten die wundersamen Elemente ihrer Gegner, den Scheichs einiger Derwisch-Bruderschaften, aus dem Alltag entfernen. „Wir müssen die Schichten von Wissen, ethnoreligiösen und sprachlichen Interdependenzen entwirren, um die Gründe dafür zu verstehen. Waren die rationalistischeren Interpretationen die Ursache oder ein Symptom eines größeren Wandels, vielleicht aufgrund sozioökonomischer Veränderungen?“, fragt Sariyannis.
Verbindungen zwischen den muslimischen und westeuropäischen Gesellschaften in der frühen Neuzeit
Der Beitrag aus GHOST zur Forschung zu den Ähnlichkeiten und Unterschieden einer (überwiegend) muslimischen Gesellschaft der frühmoderne im Vergleich zu den westeuropäischen Gesellschaften beruht auf internen sozialen Dynamiken anstelle von Mustern des kulturellen Transfers oder Einflusses. Daher musste Sariyannis viele verschiedene Quellen hinzuziehen, darunter: Sammelalben, Rezepte, Reiseberichte, Biografien, ausführliche Abhandlungen über Magie, Astrologie und so weiter, Folk-Geschichten und wissenschaftliche Abhandlungen vom späten 14. bis ins frühe 19. Jahrhundert. Ein Webportal mit Bibliografien, einer Datenbank zu osmanischen Arbeiten, Projektveröffentlichungen und interessanten Links ist jetzt öffentlich verfügbar, darunter auch eine Open-Access-Zeitschrift. Darüber hinaus wurden zwei Monografien herausgegeben: eine zur Literatur über Wunder im 13. bis 15. Jahrhundert, und eine über das Projekt insgesamt (Veröffentlichung im Jahr 2025). „Ein erfreuliches Ergebnis ist die große Nachfrage nach Übersetzungen unserer Ergebnisse ins Türkische. Das zeigt das Interesse an der osmanischen Kulturgeschichte in der Türkei“, berichtet Sariyannis.
Schlüsselbegriffe
GHOST, Dschinn, osmanisch, übernatürlich, Magie, Aufklärung, Entzauberung, islamisch, Sufi