Der Komplexität des Neandertaler-Gehirns auf der Spur
Je komplizierter eine Technologie ist, desto komplexer sind die Denkprozesse, die zu ihrer Erschaffung erforderlich sind. Untersuchen wir nun die Methoden, mit denen die Neandertaler Birkenpech herstellten, so können wir besser verstehen, worin die Unterschiede zwischen diesen Hominiden und den modernen Menschen in Hinsicht auf Verhalten und technisches Verständnis bestanden. Mit diesem Ziel vor Augen haben Forschende der Technischen Universität Delft (TU Delft) in den Niederlanden kürzlich zwei wissenschaftliche Arbeiten über prähistorische Herstellungsverfahren für Birkenpech veröffentlicht. Seine Anfertigung gilt als eine der ältesten Technologien der Welt. Beide Studien wurden im Rahmen des EU-finanzierten Projekts AncientAdhesives unterstützt und in „Scientific Reports“ publiziert.
Komplexe Denkprozesse messen
Laut Dr. Paul Kozowyk, dem Koautor einer der wissenschaftlichen Arbeiten, handelt es sich bei Birkenpech um den ersten Beweis, der uns für die Herstellung eines neuen Materials vorliegt. Im Rahmen dieser Studie wendete das Forschungsteam ein Modellierungsinstrument mit der Bezeichnung Petri-Netz-Analyse an, um verschiedene Birkenpechherstellungsmethoden der Neandertaler zu vergleichen und die Ergebnisse mit kognitiven Anforderungen wie Planung, inhibitorischer Kontrolle und Lernen zu verknüpfen. Studien-Hauptautor Dr. Sebastian Fajardo erklärt in einer Pressemeldung der TU Delft: „Die Neandertaler nutzten, zumindest in einigen Fällen, eine komplexe Verfahrensweise zur Herstellung von Birkenpech. Dabei brauchten sie Möglichkeiten, um mit vielen Informationen umzugehen, etwa Verständnis und Wege, um sehr gut Informationen zu übermitteln.“ Hier deutet sich an, dass die Neandertaler über bestimmte kognitive Eigenschaften verfügten, die mit dem modernen menschlichen Denken und Verhalten in Verbindung gebracht werden.
Die Komplexität der Maßstabserweiterung
Die zweite Studie befasst sich mit einer Art der Herstellung von Birkenpech, der sogenannten Kondensationsmethode. Um die geringe Ausbeute zu verbessern, mussten die Neandertaler wahrscheinlich die Methode optimieren. Doch wie wirkte sich die Maßstabsvergrößerung auf die Komplexität des Prozesses aus? Zur Beantwortung dieser Frage setzte das Team Petri-Netz-Modelle und ein Komplexitätsmaß mit der Bezeichnung „erweiterte zyklomatische Komplexität“ (Extended Cyclomatic Metric) ein. „Das Ergebnis lautete in diesem Fall, dass es einen sehr signifikanten Einfluss auf die Komplexität gibt, und das deutet darauf hin, dass die Menschen einen Weg gefunden haben, mit dieser komplexen Maßstabserweiterung umzugehen“, berichtet Dr.Kozowyk der die zweite Studie leitete. Dazu zählten möglicherweise mehr Kooperation und die Fähigkeit, Impulse und dominante Verhaltensweisen zu unterdrücken, was bei der Zusammenarbeit in einer Gruppe erforderlich ist. „Wir können nicht beweisen, dass sie eine bestimmte Methode verwendet haben, aber unsere Ergebnisse zeigen, dass die prähistorische Birkenpechherstellung unabhängig von den eingesetzten Techniken wahrscheinlich ein Maß an Informationsverarbeitung erforderte, das über einfache Verhaltensweisen hinausreichte.“ Im Rahmen von AncientAdhesives (Ancient Adhesives - A window on prehistoric technological complexity) wird an der Erstellung der ersten zuverlässigen Berechnungsmethode zum Vergleich vorgeschichtlicher technologischer Entwicklung sowie zur Untersuchung von Unterschieden und Ähnlichkeiten in der Technologie und Verhaltenskomplexität von Neandertalern und modernen Menschen gearbeitet. Die Modelle des Projekts sind nicht auf die Birkenpechherstellung beschränkt, sondern können auch für die Analyse weiterer Technologien wie der Kupferverhüttung und der Töpferwarenherstellung angepasst werden. Weitere Informationen: AncientAdhesives-Projektwebsite
Schlüsselbegriffe
AncientAdhesives, Neandertaler, Teer, Birkenpech, prähistorisch, vorgeschichtlich