Was uns die Waffen der Neandertalmenschen über die Vergangenheit verraten
Den Ursprung und die weite Verbreitung von Geschossen, einer der bedeutendsten technischen Innovationen der menschlichen Evolution, zu erkunden, bleibt eine zentrale Aufgabe für die Archäologie des Paläolithikums. Anhand von Rekonstruktionen früher Waffen können wir nicht nur die Jagdstrategien der Vorzeit, sondern auch die technischen und kognitiven Fähigkeiten der Homininen der Altsteinzeit beurteilen. „In diesem Zusammenhang wurde das Aufkommen von Speeren mit Steinspitzen als ein Wendepunkt der menschlichen Evolution beschrieben, der einen wichtigen Fortschritt beim Beuteerwerb durch Jagd aus der Ferne bedeutete“, erklärt TIP-N-POINT-Projektkoordinatorin Karen Ruebens vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Deutschland.
Datengestützte Ansätze
Zwar wird immer wieder behauptet, dass Neandertalmenschen Geschosstechniken entwickelt haben, jedoch ist das Erscheinen und die Verbreitung derartiger Waffen nach wie vor umstritten. Die Neandertalmenschen, die vor etwa 300 000 bis 40 000 Jahren weite Teile Europas und Westasiens besiedelten, sind, auch dank Isotopenanalysen, als in der Jagd äußerst geschickt bekannt. Jedoch spiegelt sich diese Tatsache nicht adäquat in den von ihnen hinterlassenen Werkzeugen wider. Die von Speeren aus organischem Material erhaltenen Überreste sind eher spärlich, und die eigentlich zu erwartenden steinernen Waffenspitzen sind für diesen Zeitraum nicht überall zu finden. Ziel des im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen durchgeführten Projekts TIP-N-POINT war, diese Wissenslücke zu schließen. Dazu wurde ein stärker datengestützter Ansatz in Hinsicht auf die Jagd der Neandertalmenschen aus der Perspektive des Waffenzusammenbaus verfolgt. Zu diesem Zweck reiste Ruebens zu den Neandertalmenschen-Fundstätten von Abri du Maras im Südosten Frankreichs, um bei Steinartefakten eine Reihe von Metriken zu erfassen. „Wir untersuchten einige Merkmale, die auf die Konstruktion und Gebrauch von Geschossen hinweisen könnten, etwa Beschädigungen an der Spitze, Ausdünnungen, um die Befestigung eines Steins an einem Griff zu erleichtern, und die Verteilung von Kantenschäden, um nur einige zu nennen“, fügt sie hinzu. Ruebens stellte fest, dass Merkmale, die auf die Befestigung eines Schafts hindeuten, eher selten waren, während die Kanten der Steinartefakte zur Mitte hin am stärksten beschädigt waren. „Es ist immer noch eine echte Herausforderung, den Bruch von Spitzen speziell den Auswirkungen durch das Jagen zuzuordnen“, sagt sie. Zwischen zwei verschiedenen Fundorten wurden jedoch auffällige Unterschiede festgestellt. In einem Fall waren die angespitzten Feuersteine an den Rändern nachgebessert worden. An dem anderen Fundort kamen die Spitzen ohne weitere Abänderungen zum Einsatz. Weitere Analysen, unter anderem anhand von Kollagenfingerabdruck und Radiokarbondatierung, ergaben, dass die nachgebesserten Spitzen mit einer Vielzahl von Tieren in Verbindung gebracht werden konnten.
Unsere Vergangenheit verstehen
Ruebens vertritt die Ansicht, dass die datengestützte Herangehensweise des Projekts an die Zusammensetzung von Steinwerkzeugen zu weiteren Entdeckungen über unsere entfernten Verwandten führen könnte. Derartige Einblicke in das Verhalten der Neandertalmenschen könnten für das Verständnis unserer eigenen Evolution von entscheidender Bedeutung sein. „Unterschiedliche Jagdstrategien könnten einer der Gründe für die erfolgreiche Ausbreitung des modernen Menschen über die ganze Welt gewesen sein“, meint Ruebens. „Verbesserte Jagdstrategien wie zum Beispiel das Werfen von Speeren, die Verwendung von Speerschleudern oder sogar die Pfeil-und-Bogen-Technik hätten eine vielfältige Ernährung ermöglicht.“ Zudem könnte die Art und Weise, wie die Neandertalmenschen jagten, helfen zu erklären, welche Rolle Verhaltensunterschiede bei ihrer Verdrängung durch den modernen Menschen gespielt haben könnten. Anhand der Feststellung regionaler Unterschiede im Verhalten der Neandertalmenschen könnten wir außerdem besser verstehen, wie sie auf die Ankunft des modernen Menschen in Europa vor etwa 45 000 Jahren reagiert haben. „Im größeren regionalen Maßstab wird deutlich, dass nicht von allen Gruppen der Neandertalmenschen die Jagd mit Steinspeeren praktiziert wurde“, stellt Ruebens fest. „Die Gründe für das Vorhandensein oder Fehlen steinerner Waffenspitzen zu verstehen, bleibt für die Archäologieforschung der Neandertalmenschen weiterhin eine große Herausforderung.“
Schlüsselbegriffe
TIP-N-POINT, Paläolithikum, Altsteinzeit, Archäologinnen, Archäologen, Neandertalmenschen, Waffe, Feuersteine, Steinartefakt, Archäologie