Wie sich die Ausweitung der staatlichen Kontrolle auf die Zivilgesellschaft auswirkt
Nicole Bolleyer ist Professorin für vergleichende Politikwissenschaft an der University of Exeter und hat ab Januar 2021 den Lehrstuhl für vergleichende Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München inne. In den vergangenen sechs Jahren hat sie in nie dagewesener Weise die Ursprünge von Rechtsvorschriften untersucht, welche die Zivilgesellschaft einschränken. Ihr Buch „The State and Civil Society“ („Der Staat und die Zivilgesellschaft“), das im Jahr 2018 veröffentlicht wurde, betrachtete diesen Sachverhalt erstmals anhand eines breiten Spektrums seit langem etablierter Demokratien. Jetzt schreibt sie ein zweites Buch, in dem die verschiedenen Fähigkeiten zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Kultivierung der Beteiligung von Mitgliedern der Zivilgesellschaft und zur Teilnahme an der Interessenvertretung untersucht werden. Kurz gesagt, die Fachkompetenz und Forschung von Bolleyer kann der Zivilgesellschaft dabei helfen, ihre veränderte Rolle anzunehmen und Informationen zu zukünftigen rechtlichen Entscheidungen liefern. „In ganz Europa herrscht eine Demokratiekrise und viele Menschen wenden sich von der Politik ab, was Verbände der Zivilgesellschaft zu einem wichtigeren Mittel denn je zur Bindung der Bürger an staatliche Institutionen macht. Daher stellt sich die Frage, wie der Staat selbst durch bestimmte Entscheidungen zur Gesetzgebung absichtlich oder versehentlich diese Möglichkeiten beeinflusst“, so erläutert sie. Aus paneuropäischer Sicht hat es seit geraumer Zeit Trends in Richtung einer wachsenden staatlichen Regulierung der Zivilgesellschaft gegeben. Diese Entwicklung scheint sich in den vergangenen Jahren beschleunigt zu haben. Maßnahmen zur Bewältigung der Terrorismusbedrohung haben zu dem sogenannten „Problem des schrumpfenden Handlungsspielraums für die Zivilgesellschaft“ geführt, sodass der Zivilgesellschaft immer weniger Raum bleibt, um sich effektiv Ausdruck zu verleihen und die Entscheidungsfindung zu beeinflussen – ein Phänomen, das vor Kurzem von der EU, dem Europarat und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen hervorgehoben wurde. Auch COVID-19 hat zu diesem besorgniserregendem Trend beigetragen. „Ich schaue mir derzeit Regierungsreaktionen auf COVID-19 an, um die Unterschiede zwischen Ländern zu verstehen und herauszufinden, unter welchen Bedingungen welche Maßnahmen wahrscheinlich zu Einschränkungen der Zivilgesellschaft führen und wie dies geschieht“, sagt Bolleyer. „Obwohl vorübergehende Rechtsbeschränkungsmaßnahmen in vielen Demokratien für notwendig erachtet wurden, um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen, können wir wichtige Unterschiede feststellen. Manchmal schwächten diese Maßnahmen das demokratische Gewaltenteilungsprinzip, etwa die parlamentarische Kontrolle oder die Gerichte, erheblich, manchmal nicht.“
Vergleich langlebiger Demokratien
Der Vergleich verschiedener Demokratien (insgesamt 19) bildete den Mittelpunkt von Bolleyers Projekt STATORG , das vom Europäischen Forschungsrat (EFR) finanziert wurde. Im Fokus des Projekts stand insbesondere die Behauptung, dass die erhöhte Abhängigkeit der Zivilgesellschaft von staatlicher Finanzierung und Regulierung negative Auswirkungen auf die interne Funktionsweise und Aktivitäten der Gesellschaft hätte. Es wurden Rechtsvorschriften untersucht und ihre Auswirkungen auf Parteien, Interessengruppen und Organisationen zum Wohle der Öffentlichkeit bewertet. Insgesamt wurden über das Projekt Daten zu mehr als 3 200 zivilgesellschaftlichen Organisationen generiert. Die Ergebnisse des Projekts können in zwei Kategorien eingeteilt werden: „Zum einen fanden wir heraus, dass es je nach den Traditionen in puncto Recht und Wohlfahrtsstaat sowie der jeweiligen demokratischen Geschichte einen generellen Trend zur Verabschiedung mehr oder weniger einschränkender Vorschriften gibt. Dies impliziert, dass verschiedene Demokratien mehr oder weniger widerstandsfähig gegen die Erosion des zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraums sind, wenn sie mit außergewöhnlichen Umständen konfrontiert sind, die zu restriktiveren Rechtsvorschriften einladen, etwa bei Terrorismus oder der aktuellen Pandemie“, merkt Bolleyer an. „Zum anderen haben wir sehr unterschiedliche Auswirkungen durch verschiedene Formen des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft festgestellt. In Organisationen, die beispielsweise stark auf vergütetes Personal setzen, eine Bedingung, die durch staatliche Finanzmittel häufig ermöglicht und verstärkt wird, haben die Mitglieder tendenziell weniger Einfluss auf interne Entscheidungen. In anderen Worten, sie sind intern weniger demokratisch.“ In ihrem neuen Buch untersucht Bolleyer letztgenannte Erkenntnis näher, indem ein breites Spektrum von Dimensionen für den potenziellen zivilgesellschaftlichen Beitrag zur Demokratie erforscht wird. „Im Wesentlichen zeigt die Studie die komplexen Auswirkungen zentraler organisatorischer Eigenschaften wie beispielsweise das Niveau der Professionalisierung oder die Abhängigkeit von staatlichen Finanzmitteln. Es wird insbesondere die Beteiligung von Mitgliedern der Gesellschaft an einer Organisation betrachtet und untersucht, ob die politische Interessenvertretung wahrscheinlich auf die sozialen Anforderungen und Bedenken reagieren kann.“ Das Projekt hat auch bereits Einfluss auf rechtliche Entscheidungen gehabt. Bolleyer hat beachtenswerterweise bei der Überprüfung von Gesetzesformulierungen von Mitgliedsländern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie bei der Überarbeitung von Leitlinien zur Regulierung politischer Parteien geholfen. Letztgenannte enthalten bewährte Verfahren zur Regulierung, um die Formulierung von Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit politischen Parteien zu unterstützen. Da das STATORG-Projekt jetzt abgeschlossen wurde, fokussiert sich Bolleyer auf die jüngste Welle von Regierungsbeschränkungen in Reaktion auf COVID-19.
Schlüsselbegriffe
STATORG, staatliche Kontrolle, Zivilgesellschaft, COVID-19, Demokratie