Überschneidungen zwischen Märchen und Psychiatrie
Mit dem Aufkommen der Psychiatrie als eigenständige Wissenschaft im 19. Jahrhundert kam neues Wissen zu psychischen Erkrankungen auf, das größtenteils in die Literatur einfloss. Märchen mit den etablierten Konventionen zu übernatürlichen Verwandlungen, Monstrosität und abweichendem Verhalten boten einen fruchtbaren Boden zur Erkundung psychologischer Pathologie.
Die Darstellung psychiatrischer Erkrankungen in der Literatur des 19. Jahrhunderts
Unterstützt über die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA) wurde im Projekt MadLand die Überschneidung zwischen der Psychiatrie und literarischen Märchen im 19. Jahrhundert erforscht, um den transatlantischen Wissensaustausch zwischen Medizin und Literatur nachzuweisen. Das Team analysierte amerikanische, britische und französische Quellen, um herauszufinden, wie die frühe Psychiatrie die Darstellung von Wahnsinn in Märchen prägte und wie umgekehrt die Bildsprache der Märchen in den medizinischen Diskurs über Abnormalität einfloss. „Wir haben bei MadLand hinterfragt, wie psychiatrische Definitionen psychischer Erkrankungen in Märchen dargestellt, einbezogen und sogar in Frage gestellt wurden“, berichtet der MSCA-Stipendiat Alessandro Cabiati. Die Inspiration für MadLand war ein Märchen aus dem 19. Jahrhundert über einen repressiven König, der von einem unerklärlichen Kehrreim gequält wurde, den nur er selbst hören konnte. Über die Art des Kehrreims werden im Text viele Unklarheiten gelassen, auch über die Frage, ob es sich um eine übernatürliche Erscheinung oder ein Symptom einer psychischen Erkrankung handelt. Bei weiteren Nachforschungen zeigte sich, dass psychologische Darstellungen von Abweichung ein häufiges Thema in den literarischen Märchen der Zeit waren und oft neue medizinische Klassifizierungen psychischer Erkrankungen widerspiegelten. In den Fassungen von „Blaubart“ aus dem 19. Jahrhundert wurden Protagonistinnen mit psychischen Erkrankungen wie Hysterie, Monomanie und Masochismus eingeführt. Diese Erkrankungen wurden zu der Zeit oft mit weiblichen Abweichungen in Verbindung gebracht. Interessanterweise wurde die weibliche Abweichung als ein Mittel zur Rebellion gegen männliche Tyrannei dargestellt. In anderen Märchen wurden psychischer Depression, die als dauerhafter Zauber dargestellt wurde, der nur durch eine Fee gebrochen werden kann, magische Eigenschaften zugeschrieben.
Monstrosität und Verbrechen in Märchen
Cabiati war auch daran interessiert, ob und wie kannibalistische Monster wie weibliche Oger und Hexen in Märchen als Bezugspunkt für den Diskurs über psychologische Abweichung und Devianz im 19. Jahrhundert dienten. Scheinbar diente das Bild des weiblichen Ogers in Großbritannien und Frankreich im 19. Jahrhundert als wiederkehrende Referenz zur Beschreibung von Frauen, die in Verdacht standen, Serienmorde an Kleinkindern begangen zu haben. Salomé Guiz, die „Ogerin von Sélestat“, die ihre Tochter getötet und gegessen hat, wurde von Ärzten als wahnsinnig erklärt und freigesprochen, obwohl sie keine Anzeichen einer psychischen Erkrankung zeigte. Dieser Schlüsselmoment der Kriminalpsychiatrie und ähnliche Fälle von Märchenbildern in der Pathologie von Mörderinnen wird in der demnächst erscheinenden Monografie von Cabiatis dargelegt: „Ogresses of Crime Narratives“ (Die Ogerinnen in Narrativen von Straftaten, Cambridge University Press).
Zeitgenössische Implikationen
Die Überschneidungen zwischen Literatur und Psychiatrie reichen über das 19. Jahrhundert hinaus und haben auch auf moderne Ansichten über psychische Erkrankungen Einfluss. Literarische Figuren wie Lewis Carrolls Alice finden sich in klinischen Syndromen wie dem Alice-im-Wunderland-Syndrom wieder, einer neurologischen Störung, die sich durch eine verzerrte Wahrnehmung zeigt. Ähnliche Begriffe wie der Cinderella-Komplex oder das Pinocchio-Syndrom sind zwar nicht als medizinische Diagnose offiziell anerkannt, zeigen aber, dass Märchenmotive weiterhin in die psychologische Nomenklatur einfließen. Insgesamt wurden bei MadLand konventionelle Vorstellungen zu psychischen Erkrankungen und Literatur hinterfragt und die historischen Überschneidungen zwischen Psychiatrie und Märchen aufgedeckt. Das Team hat offengelegt, wie Narrative der Abweichung konstruiert, in Frage gestellt und neu gedacht wurden, um so Erkenntnisse zur Kulturgeschichte psychischer Erkrankungen zu gewinnen und neue Debatten in der medizinischen Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft und der Psychiatriegeschichte anzufachen.
Schlüsselbegriffe
MadLand, psychische Erkrankung, Psychiatrie, Literatur, 19. Jahrhundert, Märchen, Abweichung, Monstrosität