Der Tango-Soundtrack der japanischen Auswanderung nach China und Lateinamerika
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Tango zu einer mächtigen kulturellen Verbindung zwischen den Kontinenten, die einerseits künstlerischen Ausdruck und musikalischen Austausch, andererseits aber auch politische Strategien und Geschichten von Erinnerung und Verlust verkörperte. Die Rolle des Tango in der japanischen Auswanderung nach China und Lateinamerika zwischen 1920 und 1945 wurde bisher weitgehend übersehen, aber das Team vom Forschungsprojekt CEJaMS, das mit Unterstützung der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen durchgeführt wurde, hat nun begonnen, seinen historischen Reichtum zu enthüllen. „Die persönlichen Geschichten japanischer Tango-Musizierender, die in den 1930er und 1940er Jahren nach Shanghai und in die Mandschurei auswanderten oder dorthin reisten, verdeutlichen gelebte und klangliche Verbindungen zwischen Lateinamerika und Ostasien, außerhalb der üblichen Ost-West-Achse der musikalischen Zirkulation“, kommentiert Yuiko Asaba, Musikethnologin und Projektkoordinatorin von CEJaMS. „Diese wichtige Geschichte wurde vor unserem Projekt wissenschaftlich kaum beachtet, da es nur wenige Primärdokumente gab, von denen viele während und nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gingen oder zerstört wurden.“
Tango in Japan und die Migrationspolitik
Ab dem späten 19. Jahrhundert entwickelte die japanische Bevölkerung eine zunehmende Faszination für überseeische Länder, die durch die Auswanderungskampagnen der Regierung im Rahmen ihrer kolonialen Expansion angeheizt wurde. Der Internationalisierungsplan des Landes war geprägt von einer Verklärung des Auslands und der Dichotomie zwischen Insel (Japan) und Kontinent. „Der Tango wurde in Japan zu einem mächtigen audiovisuellen Instrument, das von einer Auswahl melodramatischer Vokabeln in der populären Presse und in Filmen begleitet wurde, was die Neugier der Menschen in Japan auf die lateinamerikanischen Länder weiter steigerte und viele zur Auswanderung veranlasste“, bemerkt Asaba. CEJaMS untersuchte die Erfahrungen japanischer Tango-Musizierender im japanisch besetzten China durch archivarische und mündliche historische Recherchen in Morioka, Kyoto, Tokio, Gifu und Nara – japanischen Städten, in denen die Befragten, ehemalige Tanzsaal-Musizierende und deren Nachkommen, lebten. Im Laufe des Projekts stellte sich heraus, dass japanische Tango-Musizierende von den 1930er bis zu den 1940er Jahren zwischen Shanghai und der Mandschurei verkehrten.
Die Bedeutung der Mandschurei für japanische Tango-Musizierende
Die Mandschurei wurde vor allem von japanischen Tango-Musizierenden als ein „musikalisch authentischer“ Ort in China mit Städten voller Möglichkeiten angesehen. Diese Vision wurde von Japan aus politischen Gründen verstärkt. Die Region verfügte über ein großes Angebot an Tango-Musiknoten aus Argentinien, das auch dank einer lockeren Einfuhrbesteuerung in den 1930er Jahren in der Hafenstadt Dalian möglich war. In der Mandschurei lernten viele japanische Musizierende erstmals das Bandoneón, das „Star“-Instrument des Tangos, und die Noten des argentinischen Tangos kennen. „Viele der japanischen Tango-Musizierenden, die zwischen 1935 und 1946 in der Mandschurei lebten und arbeiteten, wurden zu Pionieren des Tangos im Japan der Nachkriegszeit. Einige von ihnen wanderten nach dem Krieg nach Argentinien und Chile aus, woraus deutlich wird, dass sich die Musik auch außerhalb des europäisch-amerikanischen Westens verbreitete“, fügt Asaba hinzu. Über die musikalischen Erfahrungen der japanischen Tango-Musizierenden in China hinaus brachte CEJaMS Aspekte von Spannungen und Verlusten im Zusammenhang mit ihren Migrationsgeschichten ans Licht. „Unerwartete Aspekte der Erinnerung und des Geschlechts traten während des Projekts zutage, da viele ehemalige japanische Musikerinnen sich weigerten, über ihre Zeit und den Aufenthalt ihrer Familien in der Mandschurei zu sprechen, und zwar aufgrund traumatischer Erlebnisse während Japans ‚Abzug‘ aus der Region inmitten der sowjetischen Invasion der Mandschurei im August 1945“, erklärt sie. Dieses Projekt gipfelte im neuem Buch von Asaba über Tango in Japan. Aufbauend auf dem Projekt CEJaMS arbeitet Asaba derzeit an neuen Forschungsarbeiten zu den musikalischen Verbindungen zwischen Asien und Lateinamerika im 20. Jahrhundert.
Schlüsselbegriffe
CEJaMS, Tango, japanische Auswanderung, China, Lateinamerika