Rechtswidrige Abstimmungen? Die Grenzen der direkten Demokratie definieren
Um es mit einem amerikanischen Aphorismus zu sagen: Demokratie ist chaotisch und niemals einfach. Nehmen wir das Konzept der direkten Demokratie, bei dem die Bürgerinnen und Bürger selbst über politische Initiativen abstimmen, anstatt sich an gewählte Amtstragende zu wenden. Das mag nach Demokratie in ihrer Reinform klingen – aber es bringt auch Probleme mit sich. „In ganz Europa werden die Bürgerinnen und Bürger immer häufiger aufgefordert, über Vorschläge abzustimmen, die aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch sind, wie etwa Einwanderungsbeschränkungen oder das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe“, sagt Daniel Moeckli, Professor für öffentliches Recht mit Schwerpunkt internationales Recht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich in der Schweiz. Moeckli zufolge führen Referenden dieser Art zu Spannungen zwischen Volkssouveränität und Rechtsstaatsprinzip. „Wo sollten die rechtlichen Grenzen der direkten Demokratie gezogen werden und wer sollte für die Einhaltung dieser Grenzen verantwortlich sein?“, fragt er. Mit Unterstützung im Rahmen des EU-finanzierten Projekts LIDD hat Moeckli eine wissenschaftliche Grundlage für die Beantwortung dieser Art von Fragen geschaffen.
Europäerinnen und Europäer an der Urne
Zunächst haben Moeckli und ein Forschungsteam die anspruchsvolle Aufgabe übernommen, Informationen über alle direktdemokratischen Instrumente zu sammeln und zu kategorisieren, die in den 46 Mitgliedstaaten des Europarats existieren. „Wir wollten herausfinden, ob in der Praxis eine Einigung auf gewisse Mindestnormen in Bezug auf die direktdemokratischen Instrumente möglich ist“, erklärt Moeckli. Das Team fand quer durch Europa eine große Vielfalt an direktdemokratischen Instrumenten vor, die weitaus größer ist, als gemeinhin angenommen wird. Dennoch, so Moeckli, mühen sich alle Staaten damit ab, die Grenzen, die solchen Instrumenten gesetzt werden sollten, sinnvoll zu definieren. Sie stoßen auch auf Schwierigkeiten dabei, effiziente, auf Rechtsstaatlichkeit basierende Rahmenbedingungen für die Einhaltung dieser Grenzen zu schaffen. Das Team des vom Europäischen Forschungsrat unterstützten Projekts LIDD stellt seine Forschungsergebnisse in drei verschiedenen Datenbanken zusammen, wobei die Forschenden planen, diese zur Gewinnung tieferer Einblicke in das Thema zu nutzen. Eine davon enthält Informationen über die gesetzlichen Regelungen direktdemokratischer Instrumente in allen Mitgliedstaaten des Europarates, eine andere alle in diesen Staaten seit 1990 durchgeführten Referenden. Dieses Jahr wurde als Ausgangspunkt für die Analyse gewählt, da es mit dem Fall des Kommunismus und den demokratischen Reformen der Regierungen in den osteuropäischen Staaten korreliert. In einer dritten Datenbank, die sich noch im Aufbau befindet, werden alle Bürgerinitiativen erfasst, die seit 1990 in diesen Staaten gestartet wurden. „Mit diesen Datenbanken verfügen wir nun über die Grundlage, um einzelne Referenden und Volksinitiativen zu analysieren, zu prüfen, ob gesetzliche Grenzen verletzt wurden und zu erfahren, ob es dazu gerichtliche Entscheidungen gibt“, ergänzt Moeckli. Die Daten wurden von Verfassungsrechtsfachleuten aus ganz Europa überprüft und sind über ein Online-Instrumentarium öffentlich zugänglich, das verschiedene Möglichkeiten zur Analyse der Informationen bietet.
Auswirkungen auf die direkte Demokratie
Das LIDD-Forschungsteam analysiert gegenwärtig die gesammelten Daten, um die Themen zu ermitteln, die europaweit als tabu für die direktdemokratische Entscheidungsfindung angesehen werden können. Die Projektarbeit zielt außerdem darauf ab, bestmögliche Verfahren zu erarbeiten, die von den Staaten angewendet werden können, um vernünftige Grenzen für die direkte Demokratie zu definieren und auf eine sinnvolle – und demokratische – Weise anzuwenden. Dazu könnte beispielsweise die Festlegung von Mindestnormen gehören, denen die institutionellen und verfahrenstechnischen Systeme zur Überprüfung der Einhaltung dieser Grenzen genügen müssen. „Unsere Forschung hat wichtige Auswirkungen darauf, wie direktdemokratische Instrumente in Zukunft eingesetzt werden können, um etablierte demokratische Ideale aufrechtzuerhalten – und nicht in Frage zu stellen“, stellt Moeckli abschließend fest.
Schlüsselbegriffe
LIDD, Stimmabgabe, Abstimmung, Rechtsstaatlichkeit, direkte Demokratie, Demokratie, Referenden, Europarat, Verfassungsrecht