Erkundung des jüdischen Lebens im mittelalterlichen Europa
Zwischen 1100 und 1350 war das mittelalterliche Europa ein relativ ruhiger und reicher Ort. In dieser Zeit breiteten sich auch jüdische Gemeinden in Nordeuropa aus, eine als Aschkenasim bekannte Diaspora. „Sieht man sich eine Karte der damaligen Zeit an, sieht man die Ausbreitung und das Wachstum jüdischer Gemeinden im heutigen Deutschland, Nordfrankreich und England“, sagt die Forscherin Elisheva Baumgarten, Professorin für jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem in Israel. „Das Verständnis dieser Diaspora ist essenziell. Öffnen jüdische Menschen heutzutage Torah-Kommentare, wurde vieles davon von mittelalterlichen Aschkenasim geschrieben.“ Doch Aufzeichnungen über das jüdische Leben dieser Zeit sind eher selektiv. Wie in der Geschichte des Mittelalters üblich war das geschriebene Wort der Elite vorbehalten – weltlichen und christlichen Führungspersonen oder gelehrten Rabbinen – und viele der Aufzeichnungen drehen sich um Zeiten der Krise oder religiöser Spannungen. Doch Baumgarten betont, dass einfache Jüdinnen und Juden ihr Leben weiterführten, in guten wie in schlechten Zeiten. „Wenn ich eines aus der aktuellen globalen Gesundheitspandemie gelernt habe, dann dass der Alltag weitergeht, auch in Zeiten der Krise“, fügt sie hinzu.
Stimmen der Vergangenheit
Das Projekt BeyondtheElite versuchte, den tausenden einfachen Jüdinnen und Juden Gehör zu verschaffen, die täglich mit ihren christlichen Nachbarsleuten interagierten, Geschäftsverträge abschlossen und ein komplexes Leben führten. Hierfür sammelten Baumgarten und ihr Team Quellen auf Hebräisch, Latein und in den Landessprachen. Diese reichten von Gebetsammlungen bis hin zu Geschäftsverträgen. Der Schwerpunkt des Projekts lag auf vier zentralen Bereichen, angefangen bei Ritualen. „Über Rituale konnten wir mehr über soziale Interaktionen lernen“, erklärt Baumgarten. „Wir schauten uns auch Orte an und fanden heraus, dass jüdische Menschen überall waren.“ Das Projektteam untersuchte auch Objekte unter der Annahme, dass Objekte allen gehörten, nicht nur der Elite. Zuletzt wurden die Menschen betrachtet. „Wer sind diese jüdischen Menschen?“, fragt Baumgarten. „Wir konnten zeigen, dass sie nicht nur in der Geldleihe tätig waren. Sie waren in vielen Gewerben vertreten. Sie gehörten vielleicht nicht den Gilden an, doch sie gingen Berufen nach. Die tägliche Realität ihres Lebens unterscheidet sich von den Ideen der gemeinschaftlichen Sozialstruktur, über die auf der Grundlage der Gemeindeführenden und Gelehrten geschrieben wurde.“
Gemeinsame europäische Geschichte
BeyondtheElite hat aufgezeigt wie wichtig es ist, auf die Stimmen des Alltags zu hören und einfachen Menschen Handlungsfähigkeit und Bedeutung zu verleihen. „Die meisten der jüdischen Menschen im Mittelalter waren keine gelehrten Rabbinen“, sagt sie. „Gemeinschaftsleben geschieht nur dank der Teilnahme einfacher Menschen.“ Dadurch bietet das Projekt ein Korrektiv dazu, wie wir die europäische Geschichte als Ganzes betrachten sollten. „Wir brauchen dieses Narrativ der Inklusion und Exklusion, des gemeinsamen und getrennten Lebens“, merkt Baumgarten an. „Jüdinnen und Juden hatten direkte christliche Nachbarinnen und Nachbarn und interagierten ständig mit diesen. Das müssen wir zeigen.“ Das Projektteam, das Studierende aus der ganzen Welt umfasst, erstellte mehrere Sammelbände und Monografien, eine Reihe an Materialien für Lehrkräfte an Schulen zur Vermittlung des Mittelalters sowie ein Buch der Primärquellen für den Hochschulunterricht. Das Projekt arbeitete auch mit israelischen Kunstschaffenden zusammen, die einige der Projektergebnisse interpretieren werden. Die Hoffnung ist, dass diese Ausstellung auf Reisen gehen wird und so neues Licht auf diese komplexe, faszinierende und wichtige Facette unserer gemeinsamen europäischen Geschichte werfen wird.
Schlüsselbegriffe
BeyondtheElite, Jüdinnen und Juden, mittelalterlich, Aschkenas, jüdisch, weltlich, christlich, Rabbinen