Untersuchung der negativen Folgen von Finanzialisierung
Reformversuche konnten den Trend bisher nicht umkehren: Mit jedem Jahr, das verstreicht, wird das Wirtschaftswachstum zunehmender durch die Finanzmärkte getrieben. Eher war die Krise 2007-2008 ein Sargnagel für die auf Produktivität basierende Wirtschaft: Die unteren und mittleren Schichten arbeiten weiterhin mehr für weniger Lohn und die Finanzwirtschaft entwickelte sich von einem Instrument zur Bereitstellung von Kapital für die Produktionswirtschaft hin zu einem Selbstzweck, mit dem Spekulanten mit öffentlicher und privater Verschuldung sogar ihren Lebensunterhalt verdienen können. Dr. Matilde Massó, Marie-Curie-Forschungsstipendiatin an der Universität Leeds, formuliert es folgendermaßen: „Der Finanzkapitalismus ist weitaus weniger gerecht und distributiv als die produktive Wirtschaft, die den Kern des Wirtschaftswachstums zwischen 1950 und 1970 bildete. Dividenden und Finanzinvestitionen steigen, während Gehälter und langfristige Investitionen in Ausrüstung, Anlagen und Maschinen zurückgehen oder stagnieren.“ Ergebnis ist ein immer größer werdendes Gehaltsgefälle zwischen oberen und unteren Unternehmenssegmenten sowie eine zunehmend prekäre Beschäftigung. Dieses Phänomen wurde bereits zuvor untersucht, doch die meisten dieser Forschungsanstrengungen führten nicht zu einer systematischen Erklärung des Zusammenhangs zwischen Finanzialisierung, Beschäftigung und Einkommensverteilung. Dies liegt zum einen in dem fehlenden Zugang zu verlässlichen Informationen über Finanz- und Investitionsvariablen von Firmen und der Industrie begründet, und zum anderen in dem fehlenden Konsens darüber, wie Finanzialisierung zu messen ist und welche Art von Indikatoren sich für ihre Analyse aus historischer Perspektive eignen. Das Hauptziel von FUSION ("The effects of financial capital accumulation on employment and wealth distribution") bestand darin, diese Lücke zu schließen. In Zusammenarbeit mit Dr. Mark Davis von der Universität Leeds und mit Fokussierung auf Spanien und Großbritannien zielte Dr. Massó darauf ab, anhand öffentlich verfügbarer Informationen einen einzigartigen und nützlichen Datensatz zu erstellen. Dabei ging es darum, einen bereits finanzgeleiteten Kapitalismus (in Großbritannien) mit einem Kapitalismus zu vergleichen, der scheinbar einem anderen Kurs folgte (Spanien). „Wir haben analysiert, inwieweit wir einen Annäherungsprozess hin zu einem finanzorientierten Kapitalismusmodell in Großbritannien und Spanien identifizieren könnten, da es sich um zwei unterschiedliche Modelle wirtschaftlicher Organisation und Kultur handelt. Wir haben uns auf nichtfinanzielle Unternehmen konzentriert, sie anhand des Wirtschaftszweigs in Gruppen unterteilt und neue Erkenntnisse zu der Hypothese geliefert, die sich auf eine globale Konvergenz hin zu einem finanzialisierten Modell von Geldkapitalakkumulation nichtfinanzieller Unternehmen auf staatlicher und wirtschaftlicher Ebene bezieht“, erklärt Dr. Massó. Insgesamt untersuchte das Projektteam die Entwicklung der Bilanzen und der Kapitalertragsrechnung für die ersten 100 börsennotierten Unternehmen in beiden Ländern zwischen 2000 und 2016. Die Wissenschaftler stellten fest, dass sich in beiden Ländern auf wirtschaftlicher Ebene tatsächlich eine konvergente Entwicklung vollzog, bei der Finanzkapital nicht nur dann steigt, wenn die Nettogewinne von Unternehmen steigen, sondern auch, wenn sie in einem Umfeld schwerer Wirtschaftskrisen, Prekarität und hoher Arbeitslosigkeit einstürzen. „Dies ist eine beachtliche Feststellung, da es impliziert, dass die Produktion zunehmend abhängig vom Finanzergebnis geworden ist, entweder als Ersatz oder als Ergänzung der Erträge aus der Produktion von Waren und aus nichtfinanziellen Dienstleistungen“, so Dr. Massó. Das Projekt hat zudem verdeutlicht, wie sich Finanzkapitalismus auf Branchen ausgehend von deren strukturellen Merkmalen unterschiedlich auswirkt. Im Fall von Großbritannien waren die negativen Auswirkungen auf Beschäftigungswachstum und Gehälter umso größer, je stärker finanzialisiert die Branche war. In Spanien hingegen konnte kein bedeutender Zusammenhang zwischen diesen Größen festgestellt werden, wobei Dr. Massó darauf hinweist, dass dies höchstwahrscheinlich auf Schwierigkeiten bei der Trennung der Auswirkungen der Finanzkrise 2007-2008 von den Nettoeffekten des Finanzialisierungsprozesses selbst zurückzuführen ist. „Darüber hinaus haben wir für beide Länder zwischen 2000 und 2016 einen starken gegenläufigen Zusammenhang zwischen gezahlten Dividenden und Gehältern festgestellt. Mit anderen Worten, große Unternehmen geben mehr Kapital für die Ausschüttung von Dividenden als für Gehälter aus, sogar in einem Umfeld, das von einer schweren Wirtschaftskrise geprägt ist. Dies hat offenkundig alarmierende Konsequenzen für Millionen von Arbeitnehmern in ganz Europa, denen angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten nur bleibt, ihre private Verschuldung zu erhöhen“, so Dr. Massó. In der Zukunft wollen Dr. Massó und Dr. Davis neue Modelle von Geldwährung untersuchen, die ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen dem Prozess der monetären Akkumulation und der Schaffung von Arbeitsplätzen ermöglichen. So untersuchen sie bereits ein breites Spektrum an Alternativen im Zusammenhang mit dem sich entwickelnden europäischen FinTech-Sektor und dessen Potenzial, neue Modelle einer demokratischen Finanzwirtschaft hervorzubringen.
Schlüsselbegriffe
FUSION, Finanzialisierung, Kapitalismus, Finanzmärkte, produktive Wirtschaft, Gehälter, Investition, Beschäftigung, Spanien, Großbritannien