Warum wir Dinge sehen, die wir nicht sehen
Wenn im Wald ein Baum fällt und Sie hören ihn auf den Boden krachen, sehen Sie ihn dann auch? Ein Ereignis wie der Fall eines Baumes ist ein multisensorisches Ereignis – es ist mit Geräuschen, Anblicken und Gerüchen verbunden. Diese Ereignisse nehmen wir oft nur durch einen Sinn wahr – in diesem Fall durch unser Gehör. Wie entsteht also das Bild davon in unserem Kopf? Diese multisensorische Wahrnehmung stand im Mittelpunkt des Projekts STYDS, das vom Europäischen Forschungsrat finanziert wurde. STYDS wollte die gesamte empirische Forschung über „multimodale mentale Bilder“ zusammenführen, ein Wahrnehmungsphänomen, bei dem die Stimulation durch einen Sinn einen anderen auslöst – in diesem Fall das Hören und Sehen. „Das Projektziel lautete, Forschungsstränge zu vereinen, die bisher nicht miteinander in Berührung gekommen sind, einschließlich verschiedener psychologischer Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, der Philosophie usw., und eine Synthese zu schaffen“, bemerkt Bence Nanay, Professor für Philosophie an der Universität Antwerpen und Projektkoordinator von STYDS.
Philosophie und Wissenschaft miteinander verknüpfen
Nanay hat das Konzept der multimodalen mentalen Bilder entwickelt, doch Menschen – und nicht nur Forschende – haben schon lange über dieses Phänomen nachgedacht. Nanay hat erkannt, dass Marcel Proust viele Beispiele und Beobachtungen in seinen Büchern beschrieb, und auch Filmregisseure denken viel über diese Idee nach und verwenden sie häufig in ihren Werken. Nanay sprach darüber mit mehreren Forschenden, um die Idee der multimodalen Bildgebung weiterzuentwickeln. „Ich bin insofern ein etwas ungewöhnlicher Philosoph, als ich es als Teil meiner Aufgabe betrachte, mit empirischen Forschenden zu sprechen und zusammenzuarbeiten, die sich mit denselben Fragen beschäftigen wie ich“, bemerkt er. „Die Idee besteht nicht nur darin, empirisch fundierte philosophische Theorien zu entwickeln, sondern auch eine bidirektionale Interaktion zwischen der Philosophie und den Wissenschaften, bei der sich beide gegenseitig beeinflussen“, fügt Nanay hinzu.
Blinden helfen, sich in der Welt zurechtzufinden
Das wichtigste konkrete Ergebnis war das Buch „Mental Imagery: Philosophy, Psychology, Neuroscience“, das 2023 bei Oxford University Press erschien. „Ich habe dieses Buch so geschrieben, dass die Leserschaft keine besondere Ausbildung in Philosophie oder empirischen Wissenschaften braucht, um den Argumenten zu folgen“, sagt Nanay. Aus dem Projekt ist auch ein weiterer Forschungszweig hervorgegangen, der für blinde Menschen von praktischer Bedeutung sein könnte. Entgegen der populären Meinung, verfügen die meisten blinden Menschen nach Ansicht von Nanay über eine (multimodale) visuelle Vorstellungswelt, und diese visuelle Vorstellungswelt spielt tatsächlich für ihre Fortbewegung eine entscheidende Rolle. Dies gilt auch für den Blindenstock, die Echolokation und sogar für das Lesen der Brailleschrift. Wenn aber ein Teil des Gehirns nicht genutzt wird, wird er neu zugewiesen. Wenn eine blinde Person ihre visuellen Kortexe nicht nutzt, werden sie z. B. der Sprachverarbeitung zugewiesen, was die Nutzung der visuellen Bereiche des Gehirns für Navigationsaufgaben erschwert. Dieses Verständnis und eine Lösung zum Training der visuellen Kortex von Blinden, die ihnen bei der Navigation hilft, wurden im entwickelt und werden nun durch eine Förderung mittels ERC Proof of Concept finanziert. „Dies könnte einen enormen Einfluss auf die Lebensqualität blinder Menschen haben“, sagt Nanay. „Es ist auch ein Beispiel dafür, wie ein interdisziplinäres Projekt, das von einem Philosophen geleitet wird, Auswirkungen auf das reale Leben haben kann.“
Schlüsselbegriffe
STYDS, multimodal, sensorisch, Wahrnehmung, Philosophie, Psychologie, Neurowissenschaft, Blinde, navigieren