Die Bedrohung des freien Meinungsaustausches in Europa bewerten
Rundfunk-, Druck- und Internet-Nachrichtenmedien übernehmen eine wichtige Rolle im Zentrum demokratischer Gesellschaften. Doch mit dem Erstarken populistischer und rechtsextremer politischer Kräfte in Europa befindet sich eine fundierte Entscheidungsfindung, die sich auf eine freie Presse stützt, zunehmend in Gefahr. Deliberative Kommunikation ist eine Vorbedingung der Demokratie. Auf diese Weise werden gegensätzliche Ansichten offen und tolerant erörtert, um einvernehmliche Lösungen für die Probleme der Gesellschaft zu finden. Das Projektteam von MEDIADELCOM versuchte zu verstehen, wie sich der Wandel der Medien- und Demokratielandschaft in Europa auf die deliberative Kommunikation auswirkt, und entwickelte ein Diagnoseinstrument zur Bewertung der Risiken und Chancen, die sich aus den Veränderungen in den Medien im Zeitraum von 2000 bis 2020 ergeben. „Die Minderung des Rechts auf freie Meinungsäußerung könnte schleichend erfolgen und unbemerkt bleiben“, sagt Halliki Harro-Loit, MEDIADELCOM-Projektkoordinatorin und Professorin für Journalismus an der Universität Tartu in Estland.
Den Zustand der Medien überwachen
Beim Instrumentarium von MEDIADELCOM handelt es sich um ein komplexes Modell, das die nationalen Medienlandschaften beobachtet und Extremszenarien im positiven und negativen Sinn für die Zukunft entwirft. Verantwortliche der Politik und andere für Entscheidungen Zuständige können bewerten, wie sich der Wandel in den Medien auf die deliberative Kommunikation auswirken könnte. Das Modell umfasst Kenntnisse über Faktoren wie Medienerstellung und -kompetenz, rechtliche und ethische Vorschriften (einschließlich Medieneigentum und Rechenschaftspflicht), den Journalismussektor (wie z. B. Arbeitsmärkte) und Mediennutzungsmuster. Zur Erstellung des Instruments wurden im Zuge von MEDIADELCOM zwei Arten von Länderberichten herangezogen: Im ersten stand die Frage nach den vorhandenen Kenntnissen über die aktuellen medienbezogenen Risiken für die deliberative Kommunikation im Mittelpunkt. Der zweite konzentrierte sich auf deren Diagnose in bestimmten Ländern. Das Team stellte fest, dass es vor allem in den osteuropäischen Ländern an Längsschnittinformationen mangelt und dass die Daten über die Mediennutzung zunehmend unter privater Kontrolle stehen, was den Zugang zu ihnen erschwert. Ein innovativer Aspekt innerhalb des Projekts war der Einsatz „agentenbasierter Szenarien“ bei der Modellierung. Dies geht über die strukturellen Faktoren in den Medien hinaus und umfasst Wissen über die Motivation und die Kompetenzen der verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft (Agenten) und die Interaktionen zwischen ihnen. „Im Journalismus Tätige, verschiedene Arten von Mediennutzenden, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte usw. haben in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Einflüsse“, fügt Harro-Loit hinzu. Diese Analyse wird in einem Buch vorgestellt, das in Kürze erscheinen wird.
Länderspezifische Situationen aufdecken
Die Analyse von MEDIADELCOM ergab Unterschiede zwischen den EU-Ländern und eine vielfältige „Matrix“ von Verschiedenheiten: Einige Faktoren gleichen andere Risiken aus. In Estland beispielsweise sei die Pressefreiheit (zu der auch Faktoren wie die Eigentümerschaft des Staates zählen) stärker ausgeprägt als die Meinungsfreiheit (die Rechtsgrundlage für die Bürgerinnen und Bürger, ihre Gedanken und Meinungen frei zu äußern), stellt Harro-Loit fest. „Wenn wir keine starke journalistische Gemeinschaft hätten, die empfindlich auf Restriktionen reagiert, könnten vielleicht auch wir uns auf ein autoritäreres Regime zubewegen?“, fragt sie. In der Praxis bedeutet das, dass EU-weite Maßnahmen unterschiedliche Auswirkungen haben können. In Griechenland wurde durch die Einführung von DSGVO-Vorschriften zur Datenverwaltung der Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu Informationen verbessert. In Estland wurde durch sie jedoch eine Tendenz zu weniger Transparenz im öffentlichen und privaten Bereich unterstützt. Das MEDIADELCOM-Team hofft, dass die Analyseinstrumente und Szenarien dazu beitragen werden, aufzuzeigen, wie sich Verordnungen oder Veränderungen in der Medienlandschaft auf die deliberative Kommunikation auswirken werden. Im Endeffekt könnte dies dazu beitragen, den sozialen Zusammenhalt in ganz Europa zu fördern. „Das MEDIADELCOM-Team befindet sich in mancher Hinsicht in der gleichen Lage wie die Klimaforschung vor zwanzig Jahren“, gibt Harro-Loit zu bedenken. „Wir fordern eine systematischere und zielgerichtetere Forschung, die die potenziellen Risiken bewertet.“
Schlüsselbegriffe
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