Kritische Ausgabe der Extractiones de Talmud ermöglicht neuen Blick auf christlich-jüdische Beziehungen
Gegen den Talmud, auf dessen Grundlage sich das Rabbinische Judentum entwickelte, begann 1240 in Paris ein Inquisitionsverfahren, das 1241/1242 mit Verbrennungen des Werks endete. Eine zweite Verurteilung wurde 1248 ausgesprochen. „Im Kontext dieser Ereignisse (ca. 1245) entstand die erste Übersetzung von 1 922 Abschnitten des Babylonischen Talmuds, der auch als Extractiones de Talmud bekannt ist, ins Lateinische“, erklärt Alexander Fidora, Koordinator des Projekts LATTAL und ICREA Forschungsprofessor an der Autonomen Universität Barcelona.
Interdisziplinäre und grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Im Projekt kamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der klassischen Philologie sowie der Hebraistik zusammen, um zu diesem Textkorpus – immerhin der größten Sammlung lateinischer Übersetzungen des Talmuds – eine kritische Ausgabe zu erstellen. Klassische Philologen identifizierten die in Bibliotheken in ganz Europa erhaltenen Handschriften aus dem 13. bis 17. Jahrhundert und erstellten den kritischen Text des lateinischen Talmud. Parallel dazu bestimmten Experten der Judaistik die Quellen des Textes innerhalb des Talmuds sowie in der jüdischen Kommentarliteratur, die ebenfalls für die lateinische Übersetzung des Talmuds genutzt worden war. Eine Zusammenarbeit mit Kollegen an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Israel war ebenso Teil des Projekts LATTAL. Fidora über die Bedeutung von Teamwork in der Grundlagenforschung der Philologie: „Einige Editionsprojekte mögen zwar ‚traditionell‘ wirken, aber sie fordern die aktuelle Forschung und die Verteilung von Forschungsförderung maßgeblich heraus.“ Dieser Ansatz mit der entsprechenden Perspektive war für die Arbeiten im Projekt offensichtlich gut geeignet, sodass aus ihnen eine Reihe historischer und philologischer Untersuchungen in Monografien und Artikeln hervorging, die frei zugänglich sind. „Wir sind stolz darauf, dass die kritische Ausgabe der Extractiones de Talmud – immerhin um die 800 Seiten – noch innerhalb der Projektlaufzeit veröffentlicht werden konnte“, so Fidora.
Christlich-jüdische Begegnungen neu aufgerollt
Die erste Ausgabe der Sammlung vergleicht den Text genau mit dem hebräischen und aramäischen Original des Talmuds. Außerdem „schreibt es die Geschichte von christlich-jüdischen Begegnungen ab dem 13. Jahrhundert neu“, bemerkt Fidora. Die Geschichte der christlich-jüdischen Beziehungen ist der Dreh- und Angelpunkt für die Rekonstruktion der Auseinandersetzung mit und der Formulierung der christlichen Identität des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Mit dem Talmud entdeckten die Christen eine Sammlung jüdischen Wissens, das sie mit der vorherrschenden Meinung über Juden nicht vereinbaren konnten. Fidora erklärt dazu: „Das traditionelle christliche Bild von Juden als Zeugen der christlichen Wahrheit wurde von einer weitaus aggressiveren Haltung abgelöst, die für die nachfolgenden Jahrhunderte den Ton vorgab.“ Die Ergebnisse von LATTAL sind damit ein beträchtlicher qualitativer Sprung in der Erforschung der christlich-jüdischen Beziehungen im Mittelalter sowie der Erforschung des hebräischen/aramäischen Talmuds. „Ich bin überzeugt, dass wir mit der Ausgabe der Extractiones de Talmud einen Beitrag zur lebendigen Tradition des Talmuds in seinem sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Kontext geleistet haben, was nicht nur von Respekt zeugt, sondern auch von solider Arbeit“, so Fidora abschließend. „Dass wir die Extractiones ans Tageslicht gebracht haben, die ja nie für die allgemeine Öffentlichkeit gedacht waren, ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie effektiv die historischen Geisteswissenschaften Verfolgung und Zensur überwinden können, wann und wo auch immer sie auftreten.“
Schlüsselbegriffe
LATTAL, Talmud, Extractiones de Talmud, christlich-jüdische Beziehungen, Babylonischer Talmud, Judentum, Christentum, lateinischer Talmud