Die „materielle“ Sichtweise der russischen Avantgarde
Eine Verlagerung in der Aufmerksamkeit von Designhistorikern auf mehrere Akteure der materiellen Kultur (wie zum Beispiele Ingenieure, Produktprüfer, Verbraucher) bietet breit gefächerte Möglichkeiten für die Untersuchung des Designs im Staatssozialismus. Designer haben in einem solchen System wenige Möglichkeiten, individuelle Anerkennung zu finden. Doch Dr. Yulia Karpova vom Projekt SAGDESOR bemerkt: „Der Staatssozialismus bietet nicht nur einen fruchtbaren Boden für ,neue materialistische‘ und ,objektorientierte‘ Designgeschichten, er schafft zusätzlich einen theoretischen Präzedenzfall: die Vorstellung des ,kameradschaftlichen Objekts‘.“ Diese in den 1920ern in der sowjetischen Avantgarde entwickelte Vorstellung sieht Objekte als sinnvolle und funktionelle ,Mitarbeiter‘ und ,Kameraden‘ menschlicher Nutzer, anstelle verführerischer Waren, wie dies in kapitalistischen Gesellschaften der Fall ist. Das über Mittel für ein Marie-Skłodowska-Curie-Einzelstipendium finanzierte Projekt SAGDESOR erkundete den historischen Versuch, ein kameradschaftliches sozialistisches Objekt in Reaktion auf die prosperierende westliche Verbraucherkultur zu schaffen, das als sanftes Machtinstrument im kulturellen Kalten Krieg verwendet wurde. Design und materielle Kultur „In methodischer Hinsicht habe ich die Erkenntnisse von neuem Materialismus und jüngerer Designgeschichte mit dem theoretischen Rahmen des sowjetischen Produktivismus kombiniert”, erklärt die Stipendiatin. Darüber hinaus bezog sie die Vorstellung der „Objektbiographie“ aus der Literaturtheorie der russischen Avantgarde mit ein. Die ursprünglich in den 1920ern von Literaturkritiker Sergei Tretjakow entwickelte Vorstellung von Objektbiographien tauchte in den 1980ern in der westlichen Anthropologie erneut auf, und weckte das Interesse für die Bedeutung alltäglicher Dinge. Die Forschung untersuchte auch die Theorien von Nachhaltigkeit in der Design- und materiellen Kultur. Dieses Interesse entstand anlässlich einer Konferenzdiskussion, die von Dr. Karpova zum Thema umweltbewusste Designpädagogik in der UdSSR in den 1980ern präsentiert wurde. Weitere Forschung an diesem Thema wurde seitdem in das Kapitel eines Buchs integriert, das in Vorbereitung ist – dies ist eines der wichtigsten Projektergebnisse. Vergangenheit und Gegenwart kommunizieren Das voraussichtlich 2020 unter dem Titel „Comradely objects: Design and material culture in Soviet Russia, 1960s-80s“ (z. dt.: Kameradschaftliche Objekte: Design- und materielle Kultur im sowjetischen Russland, in den 1960er-1980er-Jahren) erscheinende, öffentlich zugängliche Buch mit Illustrationen wird von der Manchester University Press veröffentlicht. „Es bietet eine neue Sichtweise auf die Geschichte des sowjetischen Designs, da der Schwerpunkt auf der Vorstellung des kameradschaftlichen Objekts als Mittel für progressive soziale Beziehungen liegt, die das staatlich gesponserte sowjetische Design von der Avantgarde erbte.“ Zu weiteren Publikationen zählen zwei Kapitel für Sammelbände, die im Jahr 2019 veröffentlicht werden sollen. Im März 2018 organisierte die Stipendiatin eine internationale interdisziplinäre Konferenz – „The Body of Things: Gender, Material Culture and Design in (Post) Soviet Russia“ (z. dt. : Der Körper der Dinge: Geschlechter, materielle Kultur und Design im (post-)sowjetischen Russland). Graduierte und Fakultäten aus unterschiedlichen Disziplinen taten sich zusammen, um die Narrative von materieller Kultur, Geschlechterrollen und Design in der (post-)sowjetischen Zeit neu zu überdenken. Dr. Karpova leitete die Panelveranstaltung mit dem Titel „Women as Designers and Producers“ (z. dt: Frauen als Designer und Produzenten). Mehr als eine Geschichte Der Ansatz des Projekts entspricht der methodischen Heterogenität der Designgeschichte. Hierbei handelt es sich um eine relativ junge akademische Disziplin, die in den 1970er-Jahren im Vereinigten Königreich entstand und sich seitdem international ausgebreitet hat. Sie entlehnt Methoden aus Disziplinen wie der Archäologie, der Anthropologie, den Wissenschafts- und Technologiestudien und der Kunstgeschichte. Die Ansiedlung der Forschung in dieser Disziplin trägt zu den Zielen bei, die geographische Reichweite der Forschung zu erweitern und die verschiedenen Versionen der Designgeschichte offenzulegen – nicht nur die Version, die auf westliche industriell fortschrittliche kapitalistische Gesellschaften beschränkt ist. Die Forschungsergebnisse und Publikationen von SAGDESOR demonstrieren, dass die späte sowjetische materielle Kultur dynamisch sowie aufmerksam für die internationale Designentwicklung war und hierauf in einer Weise reagierte, welche die offizielle Ideologie des Staatsozialismus überschritt. „Die Bedeutung von SAGDESOR bezieht sich auf den lang anhaltenden Einfluss der späten sozialistischen Designkultur, nicht nur im gegenwärtigen Russland, sondern auch international,” betont Dr. Karpova – „im Hinblick auf die kulturelle Diplomatie, globale Migration sowie formelle und informelle Kommunikation zwischen Menschen und Institutionen.“
Schlüsselbegriffe
SAGDESOR, materielle Kultur, Staatssozialismus, kameradschaftliches Objekt, russische Avantgarde, Sowjetisches Design, sozialistische Designkultur, Designgeschichte