Autismus zu Hause behandeln
Für ein Kind mit Autismus können die ständigen Fahrten zwischen Wohnung und Krankenhaus sehr belastend sein. Aber das ist nicht der einzige Nachteil einer Behandlung im Krankenhaus: die Eltern werden bei der Unterstützung ihrer Kinder an die Seite gedrängt, die Verhaltensweisen im wirklichen Lebensumfeld werden nicht reflektiert, die Behandlung ist nicht intensiv genug und die Besonderheiten der einzelnen Patienten können nicht berücksichtigt werden. Nicht zuletzt stellt sie eine große finanzielle Belastung für die Gesellschaft dar, da die Zahl der Kinder mit Autismus jedes Jahr steigt und es immer noch keine Heilung für diese Krankheit gibt. Angesichts all dieser Probleme hat das Team des EU-finanzierten Projekts MICHELANGELO (Patient-centric model for remote management, treatment and rehabilitation of autistic children) in den vergangenen fünf Jahren an Lösungen für die Untersuchung und Behandlung von Autismus außerhalb der klinischen Umgebung im heimischen Umfeld gearbeitet. Dabei entwickelte man eine Reihe von pervasiven sensorgestützten Technologien für physiologische Messungen etwa von Herzfrequenz, Schweiß-Index und Körpertemperatur, kameragestützte Systeme zur Überwachung von beobachtbaren Verhaltensweisen und Aufzeichnung von Gehirnreaktionen auf natürliche Reize in der Umgebung sowie Algorithmen für die Charakterisierung von stimulusspezifischen Anomalien der Gehirnwellen. Diese Technologien werden eine personalisierte Behandlung ermöglichen und, was ebenso wichtig ist, den Eltern die Rolle der Co-Therapeuten zuweisen, wodurch sie ihr Kind besser verstehen und ihm die angemessene Aufmerksamkeit schenken können. Silvio Bonfiglio ist der Koordinator von MICHELANGELO, eine Rolle, die ihm aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in den Bereichen medizinische Bildgebung, interaktive Lösungen, Benutzerschnittstellen, mobile Pflege und E-Health zugesprochen wurde. Er erzählt von den Hauptergebnissen des Projekts und über seine Pläne, wie diese bis zum Jahr 2017 den Patienten zugutekommen sollen. Welche Hauptziele verfolgt das Projekt? Wir beabsichtigen, die Behandlung von Kindern mit „Autismusspektrumstörung“ (ASS) aus dem klinischen Umfeld auf die „natürliche“ häusliche Umgebung zu übertragen. Dort wird mit neu entwickelten und unaufdringlichen Techniken sichergestellt, dass die Krankheitsentwicklung zeitnah beurteilt wird und dass man sich schnell an die Behandlung anpassen und diese personalisieren kann. Das umfasst den Einsatz von neuen, fortschrittlichen Technologien wie Computer-Vision, unauffällige und tragbare Geräte für EEG-(Elektroenzephalogramm) und EKG-Überwachung (Elektrokardiogramm), Blickregistrierung (Eyetracking), Robotik, Signal- und Bildverarbeitung, usw. Darüber hinaus will das Projekt zur ASS-Forschung, die sich noch in den Kinderschuhen befindet, beitragen und neue Möglichkeiten im Bereich der „personalisierten Behandlungen“ eröffnen. Was hat Sie zu der Forschung in diesem Bereich gebracht? Aktuellen Studien zufolge nimmt die Prävalenz von Autismus zu – in Europa ist es bereits ein Fall unter 86 Kindern. Diese Entwicklung hat erhebliche soziale und wirtschaftliche Auswirkungen mit schwerwiegenden Konsequenzen nicht nur für die Patienten, sondern für alle Familienmitglieder. Man schätzt die durchschnittlichen Lebenszeitkosten einer Person mit niedrigfunktionalem Autismus auf 5 bis 6 Mio. EUR. Unser Projekt basiert auf der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass die Effizienz der Behandlung von Autismus etwa durch eine frühe Diagnose und ein zeitnahes und intensives Lernprogramm, das durchgeführt wird, solang die Plastizität des Gehirns des Kindes noch am höchsten ist, sowie durch die Gestaltung und Bereitstellung von personalisierten Interventionsprotokollen wesentlich gesteigert werden könnte. Unsere Technologie soll zur Realisierung und zum Erfolg dieser Strategie beitragen. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Vorteile einer Intervention im häuslichen Umfeld im Vergleich zu Laborexperimenten? Indem die Behandlung von Autismus aus der Klinik heraus und in das häusliche Umfeld hinein gebracht wird, will MICHELANGELO helfen, die Hauptschwächen der derzeitigen Praktiken im Umgang mit ASS zu überwinden. Wir wissen mit Sicherheit, dass der „künstliche Kontext“ in einer Laborumgebung Ergebnisse erzeugt, die das Verhalten im realen Leben nicht widerspiegeln, dass der Mangel an Intensität der Behandlung – pro Woche finden nur 1 oder 2 therapeutische Sitzungen statt – die positive Wirkung begrenzt und dass das Interventionsprotokoll nicht angemessen personalisiert werden kann. Beispielsweise könnte uns eine Gehirnkarte durch ein Elektroenzephalogramm (eine quantitative Analyse des EEG) nützliche Informationen liefern. Leider führt die Invasivität der derzeit verwendeten Systeme (Dense-Array-EEG) sowohl zu systematischen als auch zu unsystematischen Fehlern bei den experimentellen Ergebnissen, die dann nicht der tatsächlichen Natur des Gehirnwellenverhaltens und der Konnektivität entsprechen. MICHELANGELO minimiert diese Fehler und Modulationseffekte durch ein allgegenwärtiges Aufzeichnungssystem, sodass den Patienten dessen Präsenz gar nicht mehr auffällt. Auf die gleiche Weise erleichtert eine Reihe von tragbaren und nichtinvasiven Sensoren die Überwachung von EKG-Parametern, was die rechtzeitige Erkennung von problematischen Verhaltensänderungen und emotionalen Veränderungen des Kindes (z. B. Angstzustand, Mangel an Engagement/Aufmerksamkeit, etc.) ermöglicht. In diesem Punkt bestand die Herausforderung für uns darin, den besten Kompromiss zwischen Unaufdringlichkeit und Messgenauigkeit zu erreichen. Dies schafften wir mithilfe neuartiger Algorithmen zur effektiven Artefaktunterdrückung und intelligenten Lösungen für die Verarbeitung, Fusion und Merkmalsextraktion von Daten. Darüber hinaus verspricht die Intervention in häuslicher Umgebung, die Gesamtqualität der Versorgung und ganz bestimmt die Lebensqualität der Patienten und ihrer Familien zu verbessern (weniger Fahrten zu spezialisierten Zentren, weniger Ausfallzeiten usw.). Wie funktioniert das MICHELANGELO-System genau? Der Ansatz von MICHELANGELO umfasst fünf Schritte: die Charakterisierung des autistischen Kindes in einer kontrollierten Umgebung im medizinischen Zentrum (der „MICHELANGELO-Raum“), die Gestaltung eines auf den Patienten abgestimmten Interventionsprotokolls auf Basis von Lernspielen (Serious Games), therapeutische Intervention zu Hause mithilfe von physiologischen Sensoren, Anpassung der therapeutischen Intervention auf der Grundlage der erfassten Informationen (Remote-Sitzungen und -Training) sowie eine regelmäßige Bewertung im Krankenhaus, mit erweiterten Laboruntersuchungen unter Berufung auf neue im Rahmen des Projekts entwickelten Methoden. Sie behaupten, dass diese Methode kostengünstiger als Laborexperimente sein wird. Wie kann das sein? Der MICHELANGELO-Ansatz kombiniert eine hohe Intensität der Behandlung – sie ist nicht mehr auf ein paar Stunden in der Woche in der Praxis des Therapeuten oder im Krankenhaus beschränkt – mit Wirtschaftlichkeit durch Automatisierung und eine minimale, nahtlose Intervention durch den Arzt. Ein weiterer wichtiger Vorteil resultiert aus den frühen therapeutischen Interventionen, die ebenfalls zu einer Kostenersparnis führen. Das Europäische Informationssystem für Autismus hat herausgefunden, dass „je später im Leben des betroffenen Kindes die Intervention stattfindet, desto größer Zeitaufwand und Kosten für Gesundheitsversorgung und Unterstützung sind“. Schließlich – wie bereits erwähnt – hat die Behandlung in häuslicher Umgebung klare Vorteile für die Familien, indem die notwendigen Fahrten zu entfernten spezialisierten Zentren und die Zahl der verlorenen Arbeitsstunden reduziert werden. MICHELANGELO bietet auch ein Werkzeug für eine bessere Produktivität und Unterstützung der medizinischen Fachkräfte in den Therapiesitzungen mit dem Kind im medizinischen Zentrum. Welche Rolle werden die Eltern in diesem Szenario spielen? Indem die therapeutische Intervention vom Krankenhaus nach Hause übertragen wird, unterstreicht MICHELANGELO die Rolle der Eltern und Erzieher und fördert die Zusammenarbeit zwischen ihnen und den medizinischen Fachkräften. In unserem Ansatz fungieren sie als „Co-Therapeuten“ und sind am Behandlungsprozess beteiligt. Auf der Website des Projekts wird die Erkenntnis hervorgehoben, dass jedes Kind einzigartig ist. Wie wird diese Einzigartigkeit in Ihrem System berücksichtigt? In der Tat ist jedes Kind „einzigartig mit einzigartigen Problemen und Bedürfnissen“. Also muss die Behandlung dieser Realität angepasst werden. Wie von einigen Forschern hervorgehoben, können zwei Personen mit gleichem Alter, Geschlecht und IQ sowie der gleichen Medikamentierung und Diagnose sehr unterschiedlich auf die gleiche Behandlung ansprechen. Leider sind immer noch viele Fragen offen, da man nur sehr wenig darüber weiß, wie Behandlungsprotokolle bei ASS individualisiert werden können. MICHELANGELO schlägt eine quantitative Herangehensweise vor, um die zerebrale Konnektivität eines einzelnen Kindes zu beurteilen, während es eine Aufgabe ausführt; so soll bestimmt werden, wie die Konnektivität auf die therapeutische Intervention reagiert, um dann festzulegen, ob eine personalisierte Therapie strukturelle Veränderungen durch Beseitigung oder Reduzierung von Konnektivitätsschwächen im Gehirn hervorrufen kann. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass verschiedene Kinder in der Tat unterschiedliche Einstellungen, Bedürfnisse und Reaktionen in Bezug auf die Behandlung haben. Durch die Überwachung ihrer psychophysischen Parameter könnte es möglich sein, die Behandlung so weit wie möglich an ihre Bedürfnisse anzupassen und so die Wirksamkeit zu maximieren und die möglichen Nachteile der Therapie zu minimieren. Auf die gleiche Weise haben wir im Rahmen von MICHELANGELO gezeigt, wie sich das EKG-Signal bei autistischen und sich normal entwickelnden Kindern zu Beginn und während einer bestimmten Aufgabe im Zeit- und Frequenzbereich deutlich unterscheidet. In einem minimal-invasiven Ansatz entwickelten wir eine tragbare und unaufdringliche EKG-Überwachungsplattform. Diese Lösung unterstützt die Therapeuten bei der Diagnose von ASS und bietet eine sehr zuverlässige und objektive Möglichkeit, den psychophysiologischen Zustand des Kindes zu bewerten und die Behandlung so weit wie möglich anzupassen. Wann soll Ihre Technologie die Patienten erreichen? Gibt es schon Interesse bei potenziellen Partnern? Die explorative Studie, die im Rahmen des Projekts in Frankreich und Italien durchgeführt wurde, konnte die Machbarkeit des in MICHELANGELO entwickelten Ansatzes nachweisen. Nun werden erweiterte klinische Studien nötig sein, um zu einer vollständigen medizinischen Validierung zu gelangen, und gleichzeitig müssen weitere Entwicklungsaktivitäten für die Verfeinerung und Vermarktung der Lösungen geplant werden. Insofern gehen wir davon aus, dass unsere MICHELANGELO-Lösungen in zwei Jahren, also im Jahr 2017, auf den Markt gebracht werden können. Therapeuten und Kliniker aus spezialisierten medizinischen Zentren haben bereits Interesse an der Neuheit sowohl des Ansatzes insgesamt als auch unseres IKT-basierten Systems bekundet und einstimmig dessen Vorteile in Bezug auf Effizienz, eine genauere Diagnose sowie Bewertung und Qualität der Versorgung gelobt. Die Eltern der Kinder aus der explorativen Studie waren gleichermaßen interessiert, was sehr positiv ist. Weitere Informationen sind abrufbar unter: MICHELANGELO http://www.michelangelo-project.eu/en/
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