KI-Instrumente für eine individuellere Krebsnachsorge
Es wird geschätzt, dass über 12 Millionen Menschen in Europa nach einer Krebsdiagnose überleben und dank der Fortschritte bei der Frühdiagnostik und neuer Behandlungen wird diese Zahl wahrscheinlich noch steigen. Trotz dieser Verbesserungen berichten Krebsüberlebende immer noch über zahlreiche unerfüllte körperliche, funktionelle und psychosoziale Bedürfnisse. Nach Ansicht der Ärztin María Torrente liegt das Hauptproblem darin, dass die Betroffenen im Rahmen von Nachsorgemodellen als akut (plötzlich und schwer) und nicht als chronisch (sich langfristig entwickelnd) erkrankt betrachtet werden. „Die Betreuung von Krebsüberlebenden spielt häufig eine untergeordnete Rolle und ist oft lückenhaft und schlecht in die allgemeine Krebsbehandlung integriert. Da es keine evidenzbasierten Leitlinien gibt, verlassen sich Ärztinnen und Ärzte oft auf ihre eigene Erfahrung und ihr Fachwissen“, sagt Torrente, die auch Koordinatorin des EU-finanzierten Projekts CLARIFY ist. In diesem Projekt wurden Big Data und Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) eingesetzt, um Risikofaktoren für gesundheitliche Komplikationen frühzeitig zu erkennen. Auf der Grundlage der klinischen, genomischen und verhaltensbezogenen Daten der Betroffenen, die durch offene Daten ergänzt wurden, entwickelte das Team von CLARIFY individualisierte Nachsorgemaßnahmen.
Das Entscheidungshilfesystem
Das Herzstück des CLARIFY-Ansatzes war eine digitale Plattform zur Unterstützung der Entscheidungsfindung, die entwickelt wurde, um Ärztinnen und Ärzten die Überwachung und Analyse des Gesundheitszustands der Betroffenen in Echtzeit zu ermöglichen. Mithilfe von Algorithmen und Risikostratifizierungsmodellen können sie dann maßgeschneiderte Interventionen definieren. Die Algorithmen wurden anhand von Daten aus verschiedenen Quellen trainiert, darunter: klinische Aufzeichnungen über Brust- und Lungenkrebs, das Register für Thoraxtumoren, wissenschaftliche Datenbanken (z. B. DrugBank und SIDER) und wissenschaftliche Veröffentlichungen (wie PubMed). Durch Sprachdatenverarbeitung wurden diese Daten dann mit bestehenden biomedizinischen Terminologien verknüpft, wie dem Unified Medical Language System (UMLS). Außerdem wurde ein Instrument für Arzneimittelwechselwirkungen entwickelt, um bekannte Wechselwirkungen zwischen onkologischen und nicht-onkologischen Arzneimitteln zu ermitteln.
Risikoprofilierung und -prüfung
„Die meisten Risikoprofile von Erkrankten beruhen auf dem Tumorstadium oder dem Gesundheitszustand. Mit dem Ziel, individuelle Risikoscores zu entwickeln, verknüpften wir anonymisierte klinische Daten aus den elektronischen Gesundheitsakten Betroffener mit Daten aus Wearables und Fragebögen zur Lebensqualität“, erklärt Torrente. Im Rahmen der Nachbeobachtung Betroffener wurden über 1 000 Überlebende von Brustkrebs, Lungenkrebs und Lymphomen, die an dem Projekt teilnahmen, anhand ihrer spezifischen Behandlungen und der Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls, von Sekundärtumoren und Toxizitäten in Kategorien mit niedrigem oder hohem Risiko eingeteilt. Mithilfe des maschinellen Lernens der Plattform wurden dann Prognosemodelle erstellt und Empfehlungen abgegeben, die von Ärztinnen und Ärzten genutzt wurden, um optimale Nachsorgemaßnahmen zu bestimmen. Die Plattform und die Modelle wurden von Ärztinnen und Ärzten sowie medizinischem Personal der Abteilung für medizinische Onkologie der HUPHM (Website auf Spanisch) validiert, u. a. im Rahmen von 12 Schulungsveranstaltungen. „Bei diesen Veranstaltungen erhielten die Ärztinnen und Ärzte nicht nur Feedback zur Plattform, sondern lernten auch, wie sie deren Funktionen in ihre Praxis integrieren können“, so Torrente. Die klinische Validierung und Überprüfung der Ergebnisse wurde von der Abteilung für medizinische Onkologie der HUPHM und dem Entwickler der Plattform, HOLOS, durchgeführt, um einen optimalen Datenfluss und eine optimale Datenverarbeitung zu gewährleisten. Um das tragbare Gerät Kronowise zu testen, zeichnete das Team den zirkadianen Status, die Schlafqualität und die körperliche Bewegung von 350 freiwilligen Krebserkrankten auf, und zwar 24 Stunden am Tag, eine Woche lang. Die Ergebnisse wurden dann mit denen der Allgemeinbevölkerung verglichen, was es den Erbringern von Gesundheitsleistungen ermöglichte, Bereiche für maßgeschneiderte Maßnahmen zu ermitteln. Drei Monate später wurden die Auswirkungen dieser Maßnahmen bewertet. „Wir stellten fest, dass sich die Indikatoren für die Lebensqualität bei allen drei untersuchten Pathologien verbessert hatten, insbesondere bei Lungenkrebs“, sagt Torrente.
Verbesserte Behandlungen
Die Lösung von CLARIFY bietet einen einzigartigen Zugang zu einer Vielzahl von Datenquellen. „Unsere aus den elektronischen Gesundheitsakten der Betroffenen extrahierten Daten geben Ärztinnen und Ärzten sehr genaue Einblicke in das Verhalten, das Ansprechen und die Ergebnisse der Betroffenen und ermöglichen so eine sehr spezifische Anleitung. Unser Ansatz könnte eine proaktivere nationale oder europaweite Gesundheitspolitik unterstützen, die Gesundheitsergebnisse verbessern und die Belastung der Gesundheitssysteme verringern kann“, schließt Torrente. Zurzeit arbeitet das Team an der Einführung der Plattform in der klinischen Praxis.
Schlüsselbegriffe
CLARIFY, Krebs, Nachsorge, künstliche Intelligenz, Wearable, Überlebende, Behandlung, Gesundheitswesen