Realismus in Perspektive
Gibt es Physik über das Standardmodell hinaus? Woraus bestehen dunkle Materie und dunkle Energie? In welchem Zusammenhang stehen die Antworten auf diese von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern formulierten Fragen und die spezifischen Kontexte, in denen sie arbeiten – und welche Rolle spielen diese Kontexte in unserem Streben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen? Der wissenschaftliche Realismus ist traditionell die philosophische Denkrichtung, die die besten Theorien reifer Wissenschaften als annähernd wahre Beschreibungen der Wirklichkeit auffasst. Doch wie können wir davon ausgehen, dass die Wissenschaft das Wesen der Wirklichkeit abbildet, wenn wir doch wissen, dass diese Darstellungen zwangsläufig in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext, aus einer bestimmten wissenschaftlichen Perspektive entwickelt werden (z. B. aus Perspektive der modernen Teilchenphysik und Kosmologie)?
Ein Blick von Irgendwo
„Diese Definition von Realismus setzt voraus, dass es einen ‚Blick aus dem Nichts‘ gibt, der es der Wissenschaft ermöglicht, eine annähernd wahre Abbildung zu erstellen“, erklärt Michela Massimi, Professorin für die Philosophie der Wissenschaft an der Universität Edinburgh. „Wissenschaftliche Forschung ist jedoch immer ein ‚Blick von Irgendwo‘: Sie ist das Produkt historisch und kulturell eingebetteter epistemischer Gemeinschaften, die über die Modellierungsressourcen, Statistikinstrumente, Versuchswerkzeuge und so weiter verfügen, um die bestimmten Wissensansprüche ihrer Zeit voranzubringen. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind immer eingebettete und perspektivische Erkenntnisse.“ Mit ihrem Projekt Perspectival Realism (Science, Knowledge, and Truth from a Human Vantage Point), das durch den Europäischen Forschungsrat finanziert wird, will Massimi den Begriffe des Realismus und des Perspektivismus in der Wissenschaft in Einklang bringen, indem sie das Wesen des Realismus neu denkt. „Der perspektivische Realismus ermöglicht einen neuen Blick auf den Realismus in der Wissenschaft, bei dem die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse weder als Ergebnis der Arbeit eines einzelnen Genies noch als Verfahren isoliert agierender Fachbereiche betrachtet wird. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets das Ergebnis einer sozialen, multikulturellen und kollaborativen Forschung“, sagt Massimi. Im interdisziplinären Ansatz des Projekts werden die Philosophie der Wissenschaft mit wissenschaftlicher Praxis, der Geschichte der Wissenschaft und der Geschichte der Philosophie verknüpft. Das Projekt richtet das Augenmerk auf die historischen und kulturellen Kontexte wissenschaftlicher Aussagen und entwickelt innerhalb der Grenzen der Pluralität wissenschaftlicher Perspektiven eine Vielfalt des Realismus.
Perspektivenübergreifende Wahrheit
Massimi argumentiert, dass im Mittelpunkt des perspektivischen Realismus die Identifizierung von „Phänomenen“ seht, die zuverlässig aus Daten abgeleitet wurden. Sie betont, dass dieser Prozess immer perspektivisch gefärbt ist, da die Schlussfolgerungen von einer bestimmten Gemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gezogen werden. Daher muss die Rolle dieser zahlreichen – historisch und kulturell unterschiedlichen – Gemeinschaften bei der Wissensproduktion neu gedacht werden. Keine wissenschaftliche Perspektive kann den Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Aussagen legitimieren, merkt Massimi an: „Vielmehr muss die Beurteilung von Wissensansprüchen ausgehend vom Standpunkt anderer wissenschaftlicher Perspektiven vorgenommen werden können. Diese perspektivübergreifende Beurteilung ist der Schlüssel zum Begriff der ‚perspektivischen Wahrheit‘: Wahrheit über wissenschaftliche Perspektiven hinweg.“ Im Rahmen des Projekts führte das Team Feldforschung mit Wissenschaftlerinnern und Wissenschaftlern durch und besuchte dabei das CERN und den Dark Energy Survey (DES), wo Fragen des Realismus auf die spezifische Suche nach neuen Teilchen wie Kandidaten für dunkle Materie angewendet werden. Dabei fand es heraus, dass sich die Pluralität scheinbar unvereinbarer Modelle tatsächlich als methodologisch wichtig bei der Erforschung neuer Physik in diesen zukunftsträchtigen Bereichen wissenschaftlicher Forschung erweisen kann. „Die Philosophie der Wissenschaft kann in produktive Gespräche mit der modernen Wissenschaft treten und die Zusammenarbeit anbieten – mit Blick auf die Erweiterung des Verständnisses methodologischer Annahmen, die hinter der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse stehen“, schließt Massimi.
Schlüsselbegriffe
Perspectival Realism, Philosophie der Wissenschaft, wissenschaftlicher Realismus, wissenschaftliche Perspektive, epistemische Gemeinschaften, wissenschaftliche Erkenntnisse, perspektivische Wahrheit, Dark Energy Survey, dunkle Materie, Physik über das Standardmodell hinaus