Auf Schatzsuche in der „dunklen Materie“ mikrobieller Gene
Biomasse wie landwirtschaftliche Reststoffe sowie Forst- und Lebensmittelabfälle sind wichtige Ressourcen in der EU, die bis 2030 in jährlichen Größenmengen von fast einer Milliarde Tonnen anfallen werden. Ein Großteil davon wird als Energiequelle genutzt und entweder zu Kraftstoff fermentiert oder direkt zur Wärmeerzeugung verbrannt. Um diese Ressourcen besser verwerten zu können, suchte das EU-finanzierte Projekt BHIVE nach Wegen, die „dunkle Materie“ mikrobieller Genome genauer zu erforschen. „Ziel war es, Gensequenzen mit bislang unbekannter Funktion zu enthüllen, insbesondere all solche Gene, mit deren Hilfe Biomasse in verwertbare Produkte umgewandelt werden könnte“, erklärt Projektkoordinatorin Emma Master. Die Funktion der meisten Gene, die mittels Genomsequenzierung bisher entdeckt wurden, ist noch unbekannt. „Damit könnte sich eine Fundgrube für Biokatalysatoren auftun, die dann auf verschiedenste Industriebereiche zugeschnitten werden“, ergänzt Master. Auf der Suche nach neuen Enzymen, die sich für die Umwandlung von Lignozellulose eignen, untersuchte ihr Team an der Aalto-Universität in Finnland Sequenzen aus verschiedensten mikrobiellen Genomen. Lignozellulose ist das faserige Material, aus dem Pflanzentrockenmasse zum Großteil besteht.
Höherwertige Produkte
In nördlichen Ländern wie Finnland wächst Biomasse nur langsam und ist schwer zu verarbeiten, sodass das Bestreben groß ist, Biomasse in höherwertige Produkte umzuwandeln. „Viele Biokatalysatoren, die für diese Umwandlung entwickelt wurden, sind aber nur auf Abbauprozesse spezialisiert – indem sie Zellulose in Zucker für die Fermentation zu Grundchemikalien und Kraftstoffen umwandeln“, sagt Master. „Unser Schwerpunkt hingegen lag auf Biokatalysatoren, die aufwerten statt abzubauen.“ Solche Enzyme würden dann etwa Zellulosefasern aus Holzpulpe zugesetzt werden und so das Material funktionalisieren. Um die vielen unbekannten pflanzlichen Genome erschließen zu können, mussten Master und ihre Arbeitsgruppe jedoch neue Techniken entwickeln. „Mit den Methoden der Genomik erhält man nur die Ergebnisse, nach denen man sucht. Um neue Dinge zu entdecken, muss man wissen, wonach genau man suchen muss“, fährt sie fort. „Ist die Funktion nicht bekannt, weiß man das aber nicht.“ Ausgangspunkt für die Forschenden waren daher die unterschiedlichen Arten der jeweils benötigten enzymatischen Aktivität. Daher wurde nach dem rückschließenden Prinzip gearbeitet, d. h. es wurde ein Screen erstellt, um Katalysatoren zu finden, die die jeweilige Reaktion durchführen. Erschwerend kam hinzu, dass das Screening von Enzymen in der Regel in Lösung durchgeführt wird, Lignozellulose aber unlöslich ist. „Wir mussten noch einmal überdenken, auf welche Weise wir nach dieser Aktivität suchen wollen. Daher entwickelten wir Fluoreszenzmarker und massenspektrometrische Verfahren, die Veränderungen in diesen unlöslichen Substraten aufzeigen“, erklärt Master. Zunächst analysierte die Gruppe Tausende Gene, um die Zahl dann auf einige Hundert Gene einzugrenzen und daran Expressionsanalysen durchzuführen. „Wir arbeiteten nach dem Prinzip „Mitgefangen, mitgehangen“ – also genomischen Hinweisgebern auf Sequenzen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Funktionalisierung von Lignozellulose eignen“, erklärt sie. Auf diese Weise konnten fast 100 Proteine charakterisiert werden.
Neu und besser
Einige dieser enthüllten Enzyme waren von besonderem Interesse, u. a. ein Aminierungsenzym, das Aminfunktionen an Polysaccharide anhängen kann. „Dieses Verfahren eignet sich zur Herstellung antibiotischer Wirkstoffe und chelatbildender Polymere“, merkt Master an. „Pflanzen produzieren keine aminreichen Polysaccharide. Diese lassen sich aber für die Textilherstellung nutzen.“ Ein weiteres Enzym, das entdeckt wurde, kann die Struktur von Zellulosefasern und damit ihre Porosität und Flexibilität verändern, was für die Produktion von Textilien wie Viskose nutzbar gemacht werden kann. „Die Viskoseherstellung war bislang umweltschädlich, sodass Produktionsmethoden gefragt sind, mit denen auf nachhaltigere Weise Baumwolle durch Holzfasern ersetzt werden kann“, bemerkt Master. Die Enzymforschung führt die Aalto-Universität nun in einem Kooperationsprojekt mit Forschenden in Spanien und Schweden sowie einem Industriepartner fort. „Ohne die ERC-Mittel hätten wir das nicht meistern können“, sagt Master. „Der transformative Charakter des Projekts eröffnet für uns und auch für Europa neue Wege in der Forschung an Biokatalysatoren und biotechnologischen Materialien.“
Schlüsselbegriffe
BHIVE, Enzym, Biokatalysator, Genomik, Holz, Zellstoff, Zellulose, Upgrade, Transformation, Biomaterialien, biotechnologische Materialien