Bürgerliches Recht und Unrecht: Wie Daten und Demokratie interagieren
In der Literatur wird behauptet, dass „Daten das neue Öl“ sind. Unternehmen brauchen sie, um mehr über unseren Geschmack und unsere Kaufgewohnheiten zu erfahren, Politikerinnen und Politiker wollen mit ihnen Wahlen gewinnen, und Regierungen verlassen sich – zumeist – auf sie, um das Allgemeinwohl zu sichern. Doch wie verhält es sich mit der Zivilgesellschaft? Seit etwa zehn Jahren deuten Datenjournalismus und Menschenrechtsuntersuchungen anhand von Online-Daten den Wert der Big Data für nichtstaatliche und marktunabhängige Gruppen an. Aus der Sicht der Forschung blieb die Verbindung zwischen Bürgerschaft, politischer Partizipation und Big Data jedoch relativ unerforscht, bevor DATACTIVE (Data activism: The politics of big data according to civil society) durch den Europäischen Forschungsrat (ERC) finanziert und gestartet wurde. „DATACTIVE kombinierte ausführliche Interviews mit 250 Personen aus den Bereichen Aktivismus sowie Verteidigung von Menschenrechten und digitalen Rechten mit Feldbeobachtungen aus dem realen Leben wie auch dem Cyberspace und mit Data-Mining-Verfahren. Anhand dieser Informationen sollte erfasst werden, was die Menschen über Daten und Dateninfrastrukturen denken und sagen, was sie damit machen und wie Algorithmen beides vermitteln“, sagt die Hauptforscherin Stefania Milan, außerordentliche Professorin für Neue Medien und Digitale Kultur an der Universität Amsterdam. Das Projekt konzentrierte sich auf drei Wissenslücken im Hinblick auf die Nutzung von Daten: das mangelnde Verständnis des zivilgesellschaftlichen Engagements für Daten, die Verbindung zwischen Ablehnung und Befürwortung von Big Data sowie die Gemeinschafts- und Software-Dimension des Aktivismus.
COVID-19 Techno-Solutionismus
Das Projektteam konnte die Rolle von Daten als Vermittler im digitalen Aktivismus aufzeigen. Sie können entweder ein „Einsatz“, also ein Objekt des politischen Kampfes sein, oder als Teil des „Repertoires“ bzw. als modulare Werkzeuge für den politischen Kampf mobilisiert werden. Ganz in diesem Sinne wurden mehrere interessante Trends erkannt. Im Rahmen des Projekts wurden gesellschaftliche Trends wie offene Daten, Widerstand gegen Überwachung, Open Source Intelligence, 5G und die Auswirkungen der Personalisierungsalgorithmen von Facebook auf die niederländischen Wahlen im März 2021 unter die Lupe genommen. Milans Team stellte fest, dass sich die Kluft zwischen denjenigen Menschen, die in offiziellen Aufzeichnungen sichtbar sind, und denjenigen die „datenarm“ und damit „unsichtbar“ sind, vergrößert. Dies zeigte sich beispielsweise während der COVID-19-Pandemie, als marginalisierte Gemeinschaften wie nicht registrierte Personen und Migrierte ohne Papiere Schwierigkeiten mit dem Zugang zur Gesundheitsversorgung hatten. „Wir haben einen mehrsprachigen Blog eingerichtet, der untersucht, wie das Virus von Einzelpersonen und Gemeinschaften am Rande der Gesellschaft erlebt wird. Dieser fungiert gleichzeitig als Kritik am sogenannten ‚Techno-Solutionismus‘, der die Reaktion auf die Pandemie kennzeichnete“, erklärt Milan. DATACTIVE hat untersucht, inwiefern COVID-19 zur Verringerung der Wachsamkeit in Bezug auf Datenschutzrisiken beigetragen hat. Besonders besorgniserregend ist laut Milan die Verbreitung einer neuen Art des Regierens, bei der Kontaktverfolgungs-Apps, Wärmebildkameras zur Gesichtserkennung und Bildungsplattformen nach und nach Funktionen übernommen haben, die normalerweise Verwaltungen und staatlichen Stellen vorbehalten sind. „Das wirkt sich negativ auf die Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger über ihre eigenen Daten aus und verstärkt zugleich auch Ungleichheit und Diskriminierung. Das EU-Impfzertifikat stellt den Höhepunkt dieser Entwicklung dar: Sie legitimiert Ungleichheiten zwischen Ländern und Menschen, indem sie die Unterscheidung zwischen Geimpften und Ungeimpften formalisiert und letztere schließlich ausschließt. Besonders deutlich wird dies in der südlichen Hemisphäre, wo der Zugang zu Impfstoffen sehr begrenzt ist.“
Bürgerinitiativen
Indessen konnte DATACTIVE beobachten, wie Datentransparenz und offene Daten zu einer Währung im Kampf gegen die Pandemie geworden sind. Bürgerinnen und Bürger in Ländern wie Brasilien instrumentalisieren sie. Sie entwickeln angesichts der Untätigkeit der Regierung Gegenargumente, während sich einige Basisinitiativen und Nichtregierungsorganisationen zunehmend gegen die Verbreitung der Gesichtserkennung in der Gesellschaft wehren. Die Petition „Reclaim your face“ in der EU stellt den Höhepunkt dieser Bemühungen dar. „Im Endeffekt hoffen wir, dass unser Projekt mehr Menschen dazu ermutigt, ‚mit Daten zu spielen‘. Wir wünschen uns, dass verschiedene datenaktivistische Initiativen Komplementaritäten erkunden und das Bewusstsein für die Probleme und Möglichkeiten der Datafizierung verbreiten. Auf diese Weise könnten bewährte zivilgesellschaftliche Praktiken besser für den Wissenserwerb und Agenden der öffentlichen Politik genutzt werden“, schließt Milan. Während DATACTIVE nun abgeschlossen ist, wird die Forschung im Rahmen verschiedener anderer Projekte fortgesetzt. Dazu gehören Pläne zur Entwicklung von Technologiestandards für 5G-Netze, welche speziell auf Menschenrechte Rücksicht nehmen, die Entwicklung von Software zur Untersuchung von Personalisierungsalgorithmen sowie weitere Forschungsarbeiten zu technologischen Innovationen, die Diskriminierung und Ungerechtigkeit verstärken.
Schlüsselbegriffe
DATACTIVE, Big Data, Menschenrechte, Zivilgesellschaft, digitaler Aktivismus, COVID-19