Einsichten über einen wichtigen mittelalterlichen Patriarchen dank einer kritischen Analyse nicht herausgegebener Texte
Heilige Schriften können uns viel über die Vergangenheit verraten. Das EU-finanzierte Projekt SLLB untersuchte die Erschaffung eines sakralen Raums im Byzanz des 14. Jahrhunderts anhand eines bislang kaum erforschten Korpus über das Leben spätbyzantinischer Heiliger, das von Philotheos Kokkinos verfasst wurde, dem Patriarchen von Konstantinopel in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. SLLB gab kommentierte Ausgaben zwei bislang nicht herausgegebener, hagiographischer, von Kokkinos verfasster Texte heraus: seines Diskurses (Logos) über Alle Heiligen sowie jenes über die zwölf Apostel. Das dritte Ziel des Projekts war die Darstellung von Frauen in Kokkinos‘ hagiographischen Werken. „Als spätbyzantinischer Gelehrter, Theologe und kirchlicher Würdenträger kann man die Rolle des Kokkinos im Rahmen des politischen und kirchlichen Lebens des Byzanz des 14. Jahrhunderts kaum überschätzen“, so Mihail Mitrea, Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiat an der Newcastle University und leitender Forscher von SLLB. „Kokkinos hatte den patriarchalen Thron zweimal inne und war führend daran beteiligt, den gesellschaftlichen Durchbruch der hesychastischen Theologie zuwege zu bringen – ein monastischer Brauch des stillen Gebets, der bis heute zu den wichtigsten Aspekten der christlichen Orthodoxie gehört“, gibt Mitrea an.
Raum für Spiritualität
Zu den überraschendsten und vielversprechendsten Ergebnissen des Projekts zählt die Aufdeckung der Beziehung zwischen hesychastischen spirituellen Erfahrungen und der räumlichen Umgebung. „Die Ausübung der Folgsamkeit konnte am besten in Klöstern oder in deren Nähe unter der Aufsicht eines spirituellen Vaters begangen werden, während die Hingabe zu Gott durch Gebet und die Kasteiung des Körpers oft in Abgeschiedenheit an abgelegenen und unzugänglichen Orten praktiziert werden mussten“, erklärt Mitrea. Aufgrund der Förderung der Sitte des inneren spirituellen Friedens stellt der Hesychasmus einen interessanten Gegenentwurf zu etablierten Formen des monastischen Lebens dar, da er zumindest theoretisch bedeutet, dass die Klostergemeinschaft unabhängig vom Ort, an dem sie sich befindet, inneren Frieden erreichen könnte. Das Projekt deckte auf, dass die heiligen Männer tatsächlich einen hesychastischen Lebensstil pflegten – nicht nur in Abgeschiedenheit, sondern auch als Teil einer monastischen Gemeinschaft –, sowohl innerhalb als auch außerhalb eines städtischen Umfelds und anscheinend ohne die Einschränkungen einer bestimmten natürlichen oder sozialen Umgebung. Diese Feststellung hat wichtige Folgen für die Verbreitung und das Bestehen des Hesychasmus bis zur Gegenwart. „Der nächste Schritt dieser Forschung wäre, die Anzahl der Heiligen auszuweiten, deren Leben analysiert wird, sowie die Reisemuster der heiligen Männer auf der Suche nach der Hesychia genauer zu untersuchen“, fügt Mitrea hinzu.
Tiefgreifendere Erkenntnisse
Die zwei kommentierten Texte offenbaren viel über Kokkinos‘ Vorstellungen über Heiligkeit. Er unterstreicht in der Einführung des „Logos über Alle Heiligen“, dass das Ziel der „vorliegenden Abhandlung“ nicht nur das Preisen der Heiligen ist. Sie soll aufzeigen, was der Grund für die Heiligung und Vergöttlichung der menschlichen Natur ist. Mitrea erklärt: „Kokkinos meint im Grunde, dass der Weg zur Heiligkeit zugänglich ist und jedem offensteht.“
Die Darstellung von Frauen war oft abwertend.
„Die Analyse der Schriften zeigte, dass Frauen den heiligen Männern öfter als Männer misstrauen, dass sie lästern und als ‚prahlerisch, labil und wankelmütig‘ dargestellt werden. Diese Darstellung von Frauen als wankelmütig und misstrauisch untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Das trägt zum Ziel des Hagiographen bei, die heiligen Männer in gutem Licht darzustellen, und die Skepsis, die ihnen begegnet, herabzusetzen“, so Mitrea.
Schlüsselbegriffe
SLLB, Byzanz, Philotheos Kokkinos, Spiritualität, Helden, Texte, heilig, Landschaften