Wo Mäuse Erinnerungen speichern, wenn sie mit ihren Tasthaaren Oberflächen erkunden
In dem vom Marie Skłodowska-Curie-Programm unterstützten EU-finanzierten Projekt AG-GF sollte der genaue Speicherort von Informationen in der Hirnrinde für das Kurzzeitgedächtnis bestimmt werden. „Dank der genetischen und technologischen Fortschritte in der Neurowissenschaft konnten wir die Aktivität von Millionen Neuronen gleichzeitig abbilden, die über verschiedene Bereiche der Hirnrinde verstreut waren“, erklärt Ariel Gilad, Projektkoordinator an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Speicherort des Gedächtnisses bei Bewegung anders als im Ruhezustand
Die Mäuse wurden dabei überwacht, wie sie mit ihren Tasthaaren Unterschiede zwischen zwei Oberflächenstrukturen erfühlen und diese Informationen dann für einige Sekunden im Kurzzeitgedächtnis speichern. „Überraschenderweise haben wir entdeckt, dass das Kurzzeitgedächtnis in zwei verschiedenen Bereichen angesiedelt war: entweder in der frontalen sekundär-motorischen Rinde (M2) oder in einem neu identifizierten Bereich in der hinteren Hirnrinde, den wir einfach als Bereich P bezeichnet haben“, berichtet Gilad. Es zeigte sich, dass der Ort des Kurzzeitgedächtnisses stark von der Maus selbst abhängt. Bei Aufgaben wie dieser nutzt jede Maus eine andere Verhaltensstrategie, um zu einer Lösung zu kommen. Einige wählen eine aktive Strategie und bewegen sich selbst und ihre Tasthaare bei der Wahrnehmung. Andere gehen eher passiv vor und stehen beim „Spüren“ still da. Bei den hochaktiven Mäusen lag das Kurzzeitgedächtnis in M2. Bei den Mäusen, die ruhig waren, lag das Kurzzeitgedächtnis nicht in der vorderen Hirnrinde, sondern eher im Bereich P. „Das Kurzzeitgedächtnis gehört nicht zu einer einzigen Region, sondern ist je nach dem inneren Zustand der betreffenden Maus eher flexibel“, erklärt Gilad.
Mechanismus durch Verhaltensbeobachtung geklärt
In der Wissenschaft werden individuelle Unterschiede im Allgemeinen eher vernachlässigt. Zum Beispiel ergibt ein Durchschnitt von verschiedenen Tieren einen einzigen Wert, der angeblich die Population insgesamt am besten widerspiegelt. Gilad erzählt von seinem Moment der Erkenntnis: „Es wurde mir klar, als ich mir ein Video von einer besonderen Maus angesehen habe, die immer zwischen einer aktiven und einer passiven Strategie hin und her wechselte, sogar bei jedem Versuch. Erst als wir jeden Versuch mit der dazugehörigen Aktivität an der jeweiligen Stelle der Hirnrinde in Verbindung brachten, wurde der Zusammenhang zwischen dem inneren Zustand der Maus und dem Ort des Kurzzeitgedächtnisses klar.“
Die Ergebnisse fließen in zukünftige Forschungsarbeiten ein
Geplant ist, die Beobachtungen auf viele weitere Hirnregionen auszuweiten, beispielsweise den subkortikalen Bereich und Teile der Hirnrinde, die nur schwer zugänglich sind. „Ich will verschiedene kognitive Prozesse wie Wahrnehmung, Lernen und sensorische Verarbeitung untersuchen, die erst alle zusammen einen kohärenten Intellekt bilden“, so Gilad weiter. Inzwischen ist es möglich, spezifische Zelltypen in der gesamten Hirnrinde abzubilden, zum Beispiel können auch Zellen, die in einer bestimmten Schicht der Hirnrinde liegen, oder Zellen, die die Aktivität hemmen, präzise ausgemacht werden. Auch können Zellen markiert werden, die von einem Bereich in den nächsten ragen. Dadurch lassen sich Verbindungen zwischen verschiedenen Bereichen abbilden, um das Gehirn als Netzwerk besser zu verstehen. Das Gehirn ist ein dynamisches und flexibles Gebilde, das mit der sich ständig wandelnden Interaktion zwischen der internen und der externen Welt beschäftigt ist. Gilad hat nach eigener Aussage etwas von den AG-GF Mäusen gelernt: „Es gibt auf der Erde keine zwei Gehirne, die einander gleichen. Darum muss auch unsere wissenschaftliche Arbeit genau so flexibel und dynamisch sein und unvoreingenommen die Variabilität und Ambivalenz kognitiver Prozesse berücksichtigen.“
Schlüsselbegriffe
AG-GF, Cortex, Hirnrinde, Kurzzeitgedächtnis, Mäuse, Aktivität, Tasthaare, Neurowissenschaft, passiv, Gedächtnisspeicher