Kinderliteraturwissenschaft: Wer könnte besser forschen als die Kinder selbst?
In der Literatur werden oft Utopien dargestellt, so auch in Kinderbüchern. Die Interpretationen und Bilder in diesen Stoffen sind für den Wandel von Individuen sowie ganzer Gesellschaften von immenser Bedeutung. Doch wenn es um junge Leser geht, drehten sich die theoretischen Diskussionen meist nur um den Einfluss der utopischen Literatur auf sie. Um dem etwas entgegenzusetzen, hat das Projekt ChildAct16 einen neuen Ansatz entwickelt, der auf der Zusammenarbeit von Kindern und Erwachsenen beruht. Ziel war es „besser zu verstehen wie utopische Literatur Vorstellungen von einer gewünschten Zukunft formt, wie sich diese Vorstellungen entwickeln, wenn der Leser mit den tatsächlichen Bedingungen seiner lokalen Umgebung in Berührung kommt, und wie sie die Leser zu individuellem und gemeinsamem Handeln in diesen Umgebungen anstoßen“, erklärt MSCA-Stipendiatin Dr. Justyna Deszcz-Tryhubczak. Ein ungewöhnlicher, aber zeitgemäßer Ansatz Dazu hat ChildAct16 einen beziehungsorientierte Ansatz für die wissenschaftliche Untersuchung von Kinderliteratur sowie die Schaffung demokratischer Räume für die generationenübergreifende Zusammenarbeit mit jungen Lesern rund um Bücher und das Lesen vorgeschlagen. Dies wird zwar in der Kinderliteraturwissenschaft normalerweise nicht so gehandhabt, doch Dr. Deszcz-Tryhubczak betont die Bedeutung derartiger Forschung, da sie den Einfluss der Kinder auf die Gesellschaft berücksichtigt. So ein Prozess ermöglicht gemeinschaftliches Nachdenken und Handeln, das nicht nur kritisch, sondern auch kreativ und sozial ist. Kinder am Steuer der Forschung Zur Untersuchung ausgewählt wurde China Miévilles Werk „Un Lun Dun“. Dieser Fantasyroman bezieht deutlich Position zum Umweltschutz im Angesicht von großen Abfallmengen und Luftverschmutzung. Dr. Deszcz-Tryhubczak erzählt, dass sie, ab dem Moment als die Kinder ihre Exemplare des Buches bekamen, organisatorisch nicht mehr alles selbst in der Hand hatte. „Die Kinder, das Buch selbst, die Schule, die Lehrer, die Eltern und sogar das Wetter haben den Ablauf des folgenden Forschungsprozesses beeinflusst.“ Die jungen Leser haben sich aktiv in alle Elemente des Forschungsprozesses eingebracht. Sie leisteten Beiträge zum Forschungsbedarf und beteiligten sich an der Gestaltung von Rahmen und Methodik der Studie. Die junge Forschergruppe war außerdem an der Entwicklung und Verwaltung von Forschungsinstrumenten sowie anschließend an der Analyse der Ergebnisse beteiligt. Neue Wege in der Kinderliteraturwissenschaft Ein Kernelement des Projektansatzes war, dass Kinder und Erwachsene die Ergebnisse gemeinsam in Form von Präsentationen auf Konferenzen verbreiteten. Aus diesem Prinzip heraus hat ChildAct16 auch gemeinsam mit der Universität Cambridge im Jahr 2018 eine internationale Konferenz mit dem Titel „Intergenerational Solidarity in Children’s Literature“ (Generationenübergreifende Solidarität in der Kinderliteratur) organisiert. Dr. Deszcz-Tryhubczak hat einen Artikel in „Children's Literature in Education“ veröffentlicht und als Mitautorin an einem weiteren mitgewirkt, der „in der Kinderliteraturwissensschaft einzigartig und beispiellos ist.“ Dieser Artikel mit dem Titel „Children’s voices in the Polish canon wars: Participatory research in action“ ist das Ergebnis einer Kooperation mit einer weiteren Forscherin, einer Grundschullehrerin sowie fünf Schülern aus Grund- bzw. Mittelschulen. Zu weiteren Verbreitungsmaßnahmen gehörte die Präsentation der Ergebnisse im Rahmen der „Children’s Literature Summer School“ an der Universität Antwerpen und eine Filmadaption eines Fantasy-Jugendromans. Die Projektarbeiten wurden außerdem über soziale Medien und in Briefen an Behörden und Nichtregierungsorganisationen im Bereich Umweltschutz verbreitet. Diese Veröffentlichungen „positionieren den Bereich der Kinderliteraturwissenschaft innovativ als Schauplatz generationenübergreifender Verbindungen und schaffen Möglichkeiten für eine sozial wirkungsvolle Erforschung der Kultur der Kindheit.“ Die Ergebnisse aus ChildAct16 könnten sogar die politische Entscheidungsfindung über den Literaturlehrplan beeinflussen und, allgemeiner betrachtet, auch demokratische Lehrmethoden. Dr. Deszcz-Tryhubczak abschließend: „Die Wissenschaft für die Fragen und Ideen von Kindern zum Forschungsprozess öffnen zu können, ist ein weiterer Beleg für die Validität der Kinderliteraturwissenschaft entgegen der vorherrschenden Dualität von Kindheit und Erwachsensein.“
Schlüsselbegriffe
ChildAct16, Kinder, Kinderliteratur, Literaturwissenschaft, utopische Literatur, Zusammenarbeit von Kindern und Erwachsenen, generationsübergreifende Zusammenarbeit