Die Entstehungsgeschichte eines Virus verstehen
Die beste Möglichkeit, ein Virus einzudämmen oder seine Ausbreitung zu verhindern, besteht oft darin, seine Entstehungsgeschichte zu verstehen. Und dafür hat die Wissenschaft das Genom des Erregers. „Die Gewinnung evolutionärer und epidemiologischer Informationen aus den Genomen von Krankheitserregern ist zu einem wichtigen Instrument in der Krankheitsforschung geworden“, sagt Philippe Lemey, Forscher für evolutionäre und computergestützte Virologie an der KU Leuven. „Durch die Nutzung dieser Informationen kann in der Molekularepidemiologie ein neues Licht auf die Ursprünge und die Epidemiegeschichte eines Erregers geworfen werden – einschließlich der Fragen, woher er stammt und wie er sich an neue Wirte angepasst und verbreitet hat.“ Mit Unterstützung des EU-finanzierten Projekts ReservoirDOCs versucht Lemey, solche genomischen Informationen zu nutzen, um zu verstehen, woher bestimmte Viren stammen und wie sie sich in menschlichen Populationen etabliert haben. „Wir nahmen uns zudem vor, neue computergestützte Methoden für die Analyse dieser Genomdaten zu entwickeln, mit besonderem Augenmerk auf der Integration dieser Daten mit anderen Daten“, fügt Lemey hinzu.
Einsatz während der COVID-19-Pandemie
Das vom Europäischen Forschungsrat (ERC) unterstützte Projekt kam genau zur rechten Zeit. „Als die COVID-19-Pandemie ausbrach, war unsere Forschung so weit fortgeschritten, dass wir unsere Methoden an die Erfordernisse der Zeit anpassen konnten“, erklärt Lemey. Laut Lemey wurde während der Pandemie eine enorme Menge an genomischen Daten erzeugt. Dies eröffnete der Molekularepidemiologie zwar viele neue Möglichkeiten, brachte aber auch neue Herausforderungen mit sich. „Die Menge an Daten, die verarbeitet werden mussten, war wirklich zu groß, was die Anwendung von phylodynamischen Standardmethoden erschwerte, insbesondere wenn versucht wurde, Erkenntnisse in Echtzeit zu gewinnen“, bemerkt Lemey. Eine weitere Herausforderung war die Tatsache, dass die genomischen Daten von SARS-CoV-2 oft nur eine begrenzte Auflösung aufwiesen, was bedeutete, dass selbst große Proben nur begrenzte Erkenntnisse liefern konnten. „Das Feld hat schnell erkannt, dass andere Metadaten in epidemiologischen Studien berücksichtigt werden müssen, entweder als Kontext oder integriert in die phylodynamische Modellierung“, bemerkt Lemey. Die Forschungsgruppe von ReservoirDOCs befasste sich mit beiden Herausforderungen. In Zusammenarbeit mit der Universität Oxford konnte die Gruppe beispielsweise eine phylodynamische Analyse von Übertragungslinien durchführen, die mehr als 11 000 Genome umfassen, einschließlich phylogeografischer Modelle auf einem sehr hohen Zustandsraum und unter Einbeziehung demografischer und mobilitätsbezogener Daten. „Diese Arbeit hat uns nicht nur wichtige neue Einblicke in die Invasionsdynamik der BA.1-Omikron-Variante in England verschafft, sondern zeigt auch die Möglichkeit, phylodynamische Schlussfolgerungen in einem noch nie dagewesenen Umfang zu ziehen“, sagt Lemey.
Konkrete Auswirkungen auf Interventionsstrategien
Die Arbeit des Projekts ist keineswegs auf COVID-19 beschränkt – die Forschungsgruppe befasste sich auch mit Krankheiten wie Ebola und Lassafieber. Nach einem plötzlichen Ausbruch von Lassafieber in Nigeria arbeitete sie mit Forschenden des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin zusammen, um eine genomische Überwachung des Virus durchzuführen. In kürzester Zeit erstellten und analysierten sie genomische Daten des Lassavirus, aus denen hervorging, dass dieser Ausbruch nicht auf eine Übertragung von Mensch zu Mensch, sondern auf ein verstärktes Übergreifen des Virus aus dem Nagerreservoir zurückzuführen war. Aufgrund dieser Erkenntnisse konnte das Nigerianische Zentrum für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten seine Bemühungen zur Eindämmung der Krankheit auf die Bekämpfung von Nagetieren und Hygienemaßnahmen konzentrieren. „Insbesondere diese Arbeit zeigt, wie unsere Forschung konkrete Auswirkungen auf Interventionsstrategien und die Krankheitsbekämpfung haben kann“, so Lemey abschließend. Alle Methoden des Projekts wurden als Software zur Verfügung gestellt, die bereits zu einem wichtigen Bestandteil der genomischen Epidemiologie geworden ist.
Schlüsselbegriffe
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