Des Rätsels Lösung: Einzigartiges Nahrungsnetz aus Pflanzen und Insekten in Tropenwäldern
„Unser Haus brennt!“ Diese Metapher, mit der Ende letzten Jahres die dramatischen Brände im Amazonas beschrieben wurden, klang auch in den Ohren der wissenschaftlichen Gemeinschaft wie ein Weckruf. Nun ist es an der Zeit, die Geheimnisse der tropischen Regenwälder zu lüften, und das nicht nur um der wissenschaftlichen Erkenntnis willen, sondern auch, um ihren Wert noch stärker zu verdeutlichen und hoffentlich bessere Strategien zu ihrem Schutz verwirklichen zu können. In diesem Wettlauf gegen die Zeit zählt jede einzelne Anstrengung: zum Beispiel das Projekt Diversity6continents. Anhand der Erforschung der aus Pflanzen und Insekten gebildeten Nahrungsnetze in Papua-Neuguinea, Kamerun und Panama konnte das Projekt unser Wissen darüber vertiefen, warum die Tropenwälder dort im Vergleich zu unseren eigenen Wäldern der gemäßigten Klimazonen diese unermessliche biologische Vielfalt beherbergen. Jedoch steckt noch mehr dahinter, als es zuerst den Anschein hat: Der einzigartige Projektansatz, demzufolge die Gemeinschaften vor Ort direkt miteinbezogen werden, könnte letztlich dafür sorgen, dass genau diese Menschen die Schutzstrategien stärker unterstützen. Mehr erfuhren wir in einem ausführlichen Gespräch mit Vojtěch Novotný, dem Hauptforscher von Diversity6continents.
Die Tatsache, dass in den Tropenwäldern die größte biologische Vielfalt zu finden ist, könnte allzu leicht als selbstverständlich betrachtet werden. Was hat Sie dazu bewogen, die Gründe dafür weiter zu erforschen? Welche Wissenslücken wollten Sie schließen?
Vojtěch Novotný: Tropenwälder sind bekannt für ihre beeindruckende biologische Vielfalt, aber dennoch wissen wir erstaunlich wenig über die genauen oder auch nur annähernden Dimensionen dieser Vielfalt. Besonders gilt dies für Insekten. Wir haben geschätzt, dass in einem Tieflandregenwald bis zu 9 600 verschiedene Arten pflanzenfressender Insekten an einem Ort koexistieren können. Diese Arten verfügen jeweils über eine oder mehrere Wirtspflanzenarten und ein ganzes Gefolge von Parasitoiden, Pathogenen und Räubern. Ohne eine Kartierung und ein Verständnis dieses komplexen Geflechts aus Interaktionen zwischen den Spezies dürfen wir nicht darauf hoffen, das Verhalten von Waldökosystemen zu durchschauen. Was passiert zum Beispiel, wenn wir eine bestimmte Art entnehmen oder hinzufügen? Was für eine einfache Frage: Und wir haben keine Antwort. Wir können nicht behaupten, dass wir ein System verstehen, ohne sein Verhalten vorhersagen zu können.
Was ist speziell an den Nahrungsnetzen aus Pflanzen und Insekten so besonders?
Das verzwickteste Rätsel der tropischen Vielfalt ist die schiere Anzahl der Pflanzenarten, die nebeneinander existieren können. Auf unserer Versuchsfläche in Papua-Neuguinea fanden wir 560 Holzgewächsarten, die in einem Gebiet von 1 mal 0,5 km Größe wachsen. Eine derartige biologische Vielfalt widerspricht der Nischentheorie, die besagt, dass jede koexistierende Art eine eigene Nische braucht. Wie sollen wir uns 560 verschiedene Nischen vorstellen, wenn doch alle Pflanzenarten im Wesentlichen identische Ressourcen benötigen? Normalerweise wäre zu erwarten, dass eine Art oder einige wenige Baumarten, die am besten an das lokale Klima und die Böden angepasst sind, die meisten anderen Arten auskonkurrieren und die Vegetation dominieren. Doch selbst die am häufigsten auf unserer Versuchsfläche vorkommende Art vertritt nur 3 % aller Bäume.
Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Die möglicherweise vielversprechendste Theorie ist die Janzen-Connell-Hypothese, die besagt, dass die Vegetation auf eine von der Dichte abhängigen Weise von den Pflanzenfressern oder Krankheitserregern geregelt wird. Das bedeutet, dass es bestraft wird, zu reichlich vorhanden zu sein, weil häufig vorkommende Arten unverhältnismäßig stark von ihren natürlichen Feinden angegriffen werden. Deshalb gibt es bei der Aufforstung so viele Schädlinge. Obwohl diese Theorie bereits vor 50 Jahren veröffentlicht wurde, beginnen wir aber erst jetzt damit, sie anhand von pflanzenfressenden Insekten und Pilzpathogenen genau nachzuprüfen. Unsere vor Kurzem im Journal of Ecology veröffentlichte Forschung beweist, dass die Pflanzenfresser für die Vielfalt der Regenwaldvegetation sorgen, und das sogar während der Sukzession, wenn sich der Regenwald nach Störungen wieder regeneriert. Eigentlich sollte im frühen Sekundärstadium der Sukzession nur die zwischen den Pflanzen herrschende Konkurrenz ausschlaggebend sein, doch nun scheint es so, als ob auch die Insekten bei der Gestaltung der Sukzessionsvegetation eine Rolle spielen. Es wird in zwei Richtungen geforscht. Zunächst einmal liefern wir eine akribische Dokumentation der komplexen, miteinander interagierenden Netzwerke zwischen den Pflanzen und den Pflanzenfressern, an denen mühelos 40 000 verschiedene Arten an einem Ort in Wechselwirkungen zueinander stehen können. Dann führen wir ziemlich primitive Experimente durch, bei denen wir alle Insekten eines Fleckens der Vegetation mit Insektiziden abtöten und beobachten, was als nächstes passiert. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Forschungslinien miteinander zu kombinieren, vor allem weil diese Art der Experimente heute als ziemlich umstritten gilt. Wir wollen genau wissen, welche Pflanzenfresser mehr oder weniger wichtig für die Ausprägung der Regenwaldvegetation sind.
Worin ist dieser Ansatz so innovativ?
Anstatt auf botanische Standardprotokolle zurückzugreifen, die darin bestehen, Bäume mit Stämmen mit einem Durchmesser von mehr als 5 cm innerhalb eines 1 ha großen Gebietes zu überwachen, hat die Forschung in den Tropen das allgemeine Vorgehen auf eine 50 ha große Fläche und alle Stämme mit einem Durchmesser von mehr als 1 cm ausgeweitet. Diese 300-fache Erhöhung der Anzahl der Bäume pro Versuchsparzelle wurde erstmals 1980 in Panama umgesetzt. Unsere Forschung bietet eine ähnliche Verbesserung in Bezug auf die Nahrungsnetze von Pflanzen und Insekten, von begrenzten Proben von einzelnen Bäumen bis hin zu vollständigen Auszählungen der Pflanzen und der dazugehörigen pflanzenfressenden Insekten auf den 0,1 bis 1,0 ha großen Versuchsflächen. Für diese Probenahme ist der Zugang zu den Baumkronen des Waldes über Kronendachkräne, auf Lastwagen montierte mobile Plattformen (schwere Arbeitsbühnen) oder die Abholzung des Waldes erforderlich. Letzteres hört sich zwar nicht sehr umweltbewusst an, aber es gibt viele Möglichkeiten, Probenahmen dieser Art durchzuführen, ohne zur Entwaldung beizutragen. Das gilt insbesondere für die Arbeit mit indigenen Völkern, die Brandrodungsfeldbau betreiben. Anhand dieser neuen Datensätze, die Momentaufnahmen der Nahrungsnetze aus Pflanzen und Pflanzenfressern kompletter Waldparzellen liefern, können wir neuartige Analysen in Betracht ziehen, etwa genauere Vergleiche zwischen tropischen Wäldern und den Wäldern der gemäßigten Zonen.
Was sind bislang Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Unseren Analysen zufolge lassen sich die globalen Muster der Diversität einfach durch parallele Muster der Pflanzenvielfalt für einige – jedoch nicht alle – Insektentaxa erklären. Beispielsweise folgen blattminierende Insekten, die Tunnel in Blattspreiten bohren, getreu den Mustern der Pflanzenvielfalt. Eine durchschnittliche europäische Baumart beherbergt eine ähnliche Anzahl von Blattminierern wie ein tropischer Baum und auch die Wirtsspezialisierung ist ähnlich. Im Gegensatz dazu verhalten sich Ameisen anders. Eigentlich sollten wir viel mehr Ameisenarten in Europa haben; zumindest sagen das Modelle unter Berücksichtigung der Pflanzenvielfalt voraus. Interessanterweise bestimmen Pflanzen die Vielfalt der herbivoren Insekten durch die Vielfalt der Ressourcen, die sie zu bieten haben. Die pflanzenfressenden Insekten könnten möglicherweise entscheiden, wie viele Pflanzenarten koexistieren können, indem sie diese davon abhalten, miteinander in Konkurrenz zu treten. Auf diese Weise besteht in den Tropenwäldern eine echte Pattsituation zwischen den Pflanzen und den Pflanzenfressern.
Was müssen Sie außerdem noch in den Griff bekommen, bevor das Projekt endet?
Wir befinden uns mitten in einer detaillierten Probenahme und setzen dabei den nagelneuen Kronendachkran ein, den wir in Papua-Neuguinea gebaut haben, der voll funktionsfähig ist und der Forschungsgemeinschaft weltweit zur Verfügung steht. Trotz der derzeitigen Reisebeschränkungen nutzt das Personal vor Ort den Kran rund um die Uhr, um das gesamte Nahrungsnetz der Pflanzen und Pflanzenfresser im Umkreis von 0,8 ha Tieflandregenwald zu dokumentieren. In unseren Labors in Europa entwickeln wir außerdem bessere Analysemethoden für den Vergleich von tropischen und gemäßigten Nahrungsnetzen. Das ist keine leichte Aufgabe, da sich die Nahrungsnetze in vielen Aspekten voneinander unterscheiden, von der Vielfalt und Fülle der Pflanzen und Pflanzenfresser bis hin zur phylogenetischen Vielfalt und den Mustern der trophischen Interaktionen.
Wie kann Ihrer Meinung nach das Projekt in einem Kontext, in dem die Tropenwälder noch nie zuvor dermaßen bedroht waren und politische Maßnahmen dringend erforderlich sind, zur Erhaltung der biologischen Vielfalt beitragen?
Systeme, die wir nicht verstehen, können wir nicht erfolgreich schützen, so dass jeglicher Zuwachs im ökologischen Wissen eine gewisse Relevanz für den Umwelt- und Naturschutz besitzt. Eine unmittelbarere Bedeutung unserer Forschung für den Naturschutz sehe ich jedoch eher in der Art und Weise, wie wir die Forschung betreiben, als in den Ergebnissen, die sie erbringt. An allen drei Standorten in den Tropen (Papua-Neuguinea, Kamerun und Panama) beziehen wir direkt vor Ort Menschen ein, die forschen, studieren oder im technischen Bereich tätig sind. In vielen Fällen erleben sie zum ersten Mal „echte“ Forschung. Der „Kapazitätsaufbau“ ist ein Klischee, das in fast allen Forschungsstipendien für die Regenwaldforschung versprochen wird. Realisiert werden kann er jedoch nur durch eine langfristige Ausbildung von Studierenden und Forschenden. In gleicher Weise sind Forschungskapazitäten vor Ort für den erfolgreichen Schutz des Regenwaldes unerlässlich. Internationale Naturschutzorganisationen hatten in den Tropen traditionell eine eher geringere Erfolgsquote, da sie dort eher in Form „kultureller Implantate“ arbeiteten und von den lokalen Gemeinschaften oft nicht akzeptiert wurden, obwohl sich hier in den letzten Jahren vieles deutlich verbessert hat. Aber ohne diese Akzeptanz, insbesondere innerhalb der einheimischen akademischen Gemeinschaft, ist der Schutz der tropischen Regenwälder unmöglich. Bei unserer Arbeit in Papua-Neuguinea wurden die das Waldland besitzenden indigenen Gemeinschaften eng miteinbezogen. Sie entscheiden über den Schutz oder die Abholzung des Waldes. Was nicht allgemein anerkannt ist: Indigene Völker sind nicht für den Naturschutz geboren. Auch sie brauchen einen Einkommensstrom, um verlorenes Einkommen ersetzen zu können, das im Vergleich zur Umwandlung von Land in land- oder forstwirtschaftliche Projekte bei Naturschutzmaßnahmen wegfallen könnte. Unsere Forschung hat ein solches Einkommen zu bieten und widerspiegelt viele erfolgreiche Kooperationsinitiativen zwischen internationalen Naturschutzorganisationen und lokalen Gemeinschaften. Unsere Forschungsinfrastruktur, wie zum Beispiel der Kronendachkran und die Dauerversuchsfläche für Walddynamik zieht weitere Forschungsteams an. Somit ist unsere Forschung direkt für die Erhaltung von zwei Regenwaldschutzgebieten verantwortlich. Auf diese Weise können hoffentlich auch weitere Forschungsgruppen in anderen Teilen der Welt inspiriert werden.
Schlüsselbegriffe
Diversity6continents, Tropenwälder, Insekten, Pflanzen, Nahrungsnetz