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Inhalt archiviert am 2024-04-22

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Feature Stories - Gestatten: Dr. Roboter, Hirnchirurg

EU-finanzierte Forscher können nun einen neu erfundenen Roboter vorstellen, der den Neurochirurgen bei einigen der heikelsten und anspruchsvollsten am menschlichen Gehirn durchzuführenden Operationen helfend unter die Arme greifen kann. Die Forschung zum komplexen Zusammenspiel zwischen präzisen Steuerungen, Rückkopplungssensoren und maschineller Intelligenz wird außerdem ganz allgemein einen großen Einfluss auf den Einsatz der Robotik in der Medizin haben.

Theoretisch sind Roboter die idealen Kandidaten, um in der Hirnchirurgie als Assistenten zu fungieren. Sie können äußerst präzise Manöver ausführen, haben ein gewaltiges Erinnerungsvermögen und sind Spezialisten im Schnelldenken. Und man muss ihnen natürlich nicht den Schweiß von der Stirn wischen. Mit ihrer Hilfe sollte man die Anzahl der in medizinischen Zentren durchführbaren Operationen eigentlich einfach und schnell steigern können. Wenn es doch nur so einfach wäre... "Die Entwicklung eines chirurgischen Roboterassistenten ist eine extrem anspruchsvolle Aufgabe", wie Giancarlo Ferrigno, Koordinator des EU-finanzierten Robocast-Projekts ("Robot and sensors integration for computer assisted surgery and therapy"), feststellt. "Die Gestaltung muss eine große Anzahl von Variablen einkalkulieren und der Prozess erfordert äußerste Präzision. Es gibt so gut wie keinen Spielraum für Fehler." Das Robocast-Projekt, das 3,45 Mio. EUR der insgesamt 4,55 Mio. EUR seiner Mittel von der EU erhielt, konzentrierte sich auf eine besonders klar umrissene Aufgabe, die sogenannte robotergestützte Schlüsselloch-Neurochirurgie - eine Technik, bei der minimal invasiv durch ein sehr kleines Loch im Schädel - eine sogenannte Trepanation - operiert wird. Dieses Operationsverfahren kommt bei vielen Eingriffen am Gehirn zum Einsatz. Die Chirurgen nutzen bei der Endoskopie ein "Schlüsselloch" zum Einführen einer Kamera, um einen Teil des Organs direkt untersuchen zu können, während bei der Biopsie Proben verdächtigen Gewebes durch das Schlüsselloch entnommen werden. Das Verfahren eignet sich zum Legen von Kanülen zur Blut- und Flüssigkeitsabnahme sowie zur kryogenen und elektrolytischen Ablation, mit der Gewebe mittels extremer Kälte oder elektrischem Gleichstrom abgetragen werden. Bei der Brachytherapie wird eine Strahlenquelle nahe der Behandlungsstelle plaziert, während bei der tiefen Hirnstimulation (deep brain stimulation, DBS) ein Hirnschrittmacher installiert wird. Mit diesen Verfahren konnte man die Behandlungspalette bei Tumoren, Hydrocephalus (Wasserkopf: eine Erkrankung, bei der sich Flüssigkeit im Gehirn sammelt), Dystonie (eine neurologische Bewegungsstörung), essentiellem Tremor, Morbus Parkinson, Tourette-Syndrom, klinischen Depressionen, Phantomschmerzen, Cluster-Kopfschmerz und sogar Epilepsie bahnbrechend verbessert werden. Hierbei handelt es sich um ein riesiges und expandierendes Gebiet; es ist allerdings auch eines der anspruchsvollsten überhaupt. Es verlangt nach hoher Intelligenz, außergewöhnlicher Fingerfertigkeit und Nerven wie Drahtseile. "Neurochirurgische Operationen finden heutzutage tatsächlich an den Grenzen menschlicher Fähigkeiten statt; nur mit neuen Technologien wird es den Chirurgen möglich sein, diese zu überwinden", erklärt Dr. Ferrigno. "Vitalfunktionen wie das Fühlen, die Bewegung, die Sprache und das Gedächtnis verbergen sich innerhalb von Hirngewebe, das nur wenige Zehntel Millimeter breit ist: Fehler können hier bleibende Schäden hinterlassen." Die Entwicklung eines zuverlässigen, sicheren und effektiven robotergestützten Assistenten könnte möglicherweise die Sicherheit verbessern und die Anzahl der durchführbaren Operationen erhöhen. Dies erscheint im Hinblick auf die nächsten 20 Jahren umso wichtiger, da Europas Bevölkerung einer schnellen Alterung unterliegt und die Häufigkeit von Hirnerkrankungen steigt. Mechatronische Intelligenz Das Robocast-Team entwickelte sowohl Software als auch Hardware. Robotikhardware bezeichnet man als Mechatronik, da sie aus mechanischen Teilen und elektronischen Schaltungen besteht. Während die Mechatronik für den Körper und das Nervensystem eines Roboters verantwortlich ist, sorgt die Software für die Intelligenz. Das Gesamtsystem besteht aus einer Mensch-Computer-Schnittstelle mit intelligenter kontextbezogener Kommunikation und einem haptischen oder kraftrückgekoppelten Steuerungsmechanismus. Bestandteile sind eine Mehrfachrobotereinheit, ein autonomer Wegverlaufsplaner, eine übergeordnete Steuerung und eine Gruppe Feldsensoren. Die mechatronische Phase des Projekts entwickelte ein modulares System mit geringer Stellfläche, das zwei Roboter und eine aktive biomimetische Sonde enthält. Biomimetische Systeme werden nach dem Vorbild biologischer Modelle entworfen. Die drei Elemente arbeiten in einem integrierten sensomotorischen Rahmen zusammen und agieren wie eine Einheit. Der erste Roboter kann seine Miniatur-Begleitroboter innerhalb von sechs Freiheitsgraden positionieren. Freiheitsgrade definieren die Richtungen, in die sich ein Objekt im dreidimensionalen Raum bewegen kann: Sechs Freiheitsgrade gewährleisten den optimalen Bewegungsbereich. In der Realität bedeuten sechs Freiheitsgrade, dass der Roboter drei lineare Bewegungsrichtungen einschlagen kann: nach oben und unten, von links nach rechts und von hinten nach vorne sowie jeweils auch umgekehrt. Auch die drei Drehbewegungen wie Kippen vorwärts und rückwärts, seitlich oder nach links und rechts sind möglich. Der Roboter kann diese Bewegungen gleichzeitig kombinieren, um seinen Gefährten an jedem beliebigen Punkt im Raum zu positionieren. Er kann seinen Miniaturbegleitroboter außerdem an einer beliebigen Stelle in einem Operationssaal platzieren. Dieser Miniaturroboter hält dann die Sonde, die durch das Schlüsselloch eingeführt werden kann. Optische Tracker folgen sowohl dem Sonden-Ende als auch dem Patienten. Der Roboter kann die Position und die angewandte Kraft unter Einsatz einer Kombination von Sensoren steuern. Die Robocast-Forscher entwickelten überdies die intelligente Seite des Roboters: Die Definition des Bewegungspfads der chirurgischen Umsetzung war ein überaus wichtiger Teil dieser Arbeit. Als Mensch erscheint einem eine Trajektorie wie etwa der Wegverlauf einer Bewegung oder eine Flugbahn als selbstverständlich, aber in der Robotik hat man es hier mit einem sehr schwierigen Problem zu tun. Unser Gehirn nimmt die komplexen Berechnungen, die nötig sind, um Objekte im Raum zu lokalisieren, instinktiv vor, und führt diese Berechnungen, noch während sich das Objekt bewegt, wörtlich "im Flug" - in Echtzeit - aus. Das Ergebnis: Wirft uns jemand einen Ball zu, so fangen wir ihn meistens auf. Hier verbirgt sich ein ungeheuer komplizierter Prozess. Bei Robocast entwickelte man ein Steuersystem, das in eigener Regie durch Analyse präoperativer diagnostischer Informationen für eine Wegplanung sowohl außerhalb als auch innerhalb des Körpers des Patienten sorgt. Der Weg im Inneren des Gehirns wird auf der Basis eines "Riskoatlasses" geplant. Der Atlas reproduziert eine unscharfe Darstellung eines Hirnatlas, der sich auf nach "Gefahrstufen" geordneteHirnstrukturen bezieht. Die Unschärfe leitet sich aus der immensen angeborenen Variabilität der einzelnen Individuen ab und definiert Gefahr in Stufen von sehr hoch bis eher gering. Der Aufbau des Atlas stützt sich auf kognitives Lernen. Das System kann dem Chirurgen Erläuterungen für jede vorgeschlagene Handlung anbieten. Der Roboter kann den Plan semiautonom überarbeiten, um auf unvorhergesehene Änderungen einzugehen, die bei einer Operation auftreten. Diese Anpassungen basieren auf während der Operation mit Hilfe von Verfahren wie der Ultraschallbildgebung gesammelten und verarbeiteten Informationen. Der Chirurg behält natürlich die Gesamtkontrolle und die Verantwortung für die Operation und kann beliebige zusätzliche Beschränkungen für den Wegplaner eingeben. Auf diese Weise ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen dem Chirurgen und dem intelligenten Herzstück des Systems eine finale Wegplanung innerhalb und außerhalb des Körpers. Die Schnittstelle zwischen System und Nutzer erfordert lediglich minimale Interaktion. Sie bietet allerdings über ein intuitives Design, in dem kontextgestützte Interpretationen der Befehle des Chirurgen eingesetzt werden, sämtliche notwendigen Informationen. Bei einer Demonstration im Februar 2011 führte das Robocast-Team den Roboter in Aktion vor: In einem echten OP-Saal wurde ein Eingriff an einem Phantom durchführt. Die Technik funktioniert und das Projekt hat all seine Ziele erreicht. Nun muss alles weiterentwickelt und validiert werden, um für den Einsatz im OP am lebenden Menschen grünes Licht zu bekommen. "Das Projekt war eine enorme Herausforderung, vor allem in Bezug auf die Zusammenführung der Arbeit der über ganz Europa und Israel verteilten Wissenschaftler", erklärt Dr. Ferrigno. "Es war wie die Organisation eines aus überaus begabten Solisten bestehenden Orchesters. Wir konnten diese Aufgabe durch die großartige Koordination und Kooperation aller Partner in den Griff bekommen. Wir tauschten die Forscher für einige Wochen parallel zwischen den Instituten aus, und das war sehr hilfreich." Nun wird ein Folgeprojekt mit der Bezeichnung ACTIVE die Roboter- Neurochirurgie für Patienten erforschen, die während der Operation wach bleiben. Die biomimetische Sonde erhielt außerdem Mittel des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC) zur Weiterentwicklung, während sich der Wegplaner in der klinischen Praxis im Einsatz befindet. Letztlich ist ein großer Fortschritt in der Robotertechnik zu verzeichnen: Dank Robocast wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis in den medizinischen Zentren "Hirnchirurg Dr. Roboter" ausgerufen wird. Das Robocast-Projekt erhielt Forschungsmittel aus dem Unterprogramm "Cognitive systems, interaction and robotics" des Siebten EU-Rahmenprogramms (RP7). Nützliche Links: - "Robot and sensors integration for computer assisted surgery and therapy" - "Robocast--Projektdatensatz auf CORDIS" Weiterführende Artikel: - Wissenschaftler entwickeln intelligente Roboterhand - Roadmap for robot helpers - Real-life robots obey Asimov's laws