Projekt-Erfolgsstorys - Multiskalenmodellierung im Dienste der Gesundheit
Thema der Forschungsarbeit sind Ablagerungen in den Herzkranzgefäßen, die die Sauerstoffzufuhr des Herzens behindern, das Risiko von Verklumpungen in der Arterie erhöhen und letztendlich zum Herzinfarkt führen können. Routinemäßig wird in einem solchen Fall das verengte oder verstopfte Blutgefäß mittels angioplastischer Verfahren mechanisch erweitert, um die Plaque zu entfernen. Um der Gefahr vorzubeugen, dass sich die geschwächte Arterie wieder schließt, wird häufig eine mechanische Unterstützung in Form eines Stents gesetzt, der die Arterie von innen stützt und so den Blutfluss gewährleistet. Die Wunde in der Arterie braucht nun Zeit zur Heilung. Dies ist meist unproblematisch, wobei sich neues Gewebe um den Stent herum bildet und der Patient dann ein weitgehend normales Leben führen kann. In ungefähr 10 Prozent der Fälle kommt es allerdings an der Engstelle zu krankhaftem Gewebewachstum innerhalb der Arterie. Bei dieser sogenannten In-Stent-Restenose (ISR) bildet sich neointimales Gewebe, das die Arterie wieder verstopfen und einen erneuten chirurgischen Eingriff erforderlich machen kann. Dem widmete sich das Projekt COAST (Complex Automata Simulation Technique), ein interdisziplinäres EU-finanziertes Projekt mit Schwerpunkt auf interdisziplinären Multiskalensimulationen. Dabei war das Ziel neben der Verbesserung der medizinischen Versorgung auch die Entwicklung eines Roboters (complex automaton, CxA) zur Simulation und Synthese komplexer, umfassender mathematischer Modelle nach dem Prinzip "vom Molekül zum Menschen". "Das COAST-Projekt befasst sich hauptsächlich mit der Multiskalenmodellierung (MSM)", so Professor Alfons Hoekstra vom Institut für Informatik an der Universität Amsterdam und Koordinator von COAST. "Seit ungefähr 10 Jahren zeichnet sich ein Umdenken ab: bislang beschäftigte man sich in der biomedizinischen Forschung mit biologischen Systemen auf jeweils einer bestimmten Ebene bzw. Maßstab. Man fokussiert sich auf Organe, Gewebe und Zellen und versucht, die Vorgänge im Körper in verschiedenen Skalen zu verstehen. Seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms reicht die Bandbreite nun von molekularen Analysemethoden bis hin zur Organebene. Für diese komplexen Prozesse werden Multiskalenmodelle benötigt", erklärt er. Um beispielsweise die Ursachen für ISR besser zu verstehen ― und gezielter nach geeigneten Therapien zu suchen – wird derzeit geprüft, inwieweit ein Forschungsrahmen für die interdisziplinäre, biomedizinische Multiskalenmodellierung machbar ist. "Im Mittelpunkt der COAST-Forschungen steht ISR", so Professor Hoekstra. "Diese Anwendung ist sehr anspruchsvoll, denn es müssen verschiedenste Multiskalen miteinander gekoppelt werden." Um die Vorgänge im Körper darstellen zu können, könnte man theoretisch alle Zellfunktionen im Körper simulieren, aber auch alle Proteine, die in den Zellen hergestellt werden. Allerdings ist dies computertechnisch noch nicht machbar. Ein Lösungsansatz bestünde beispielsweise darin, ein relativ grobes Modell der physiologischen Vorgänge zu entwickeln, etwa in größeren Blöcken. Dann jedoch würden Informationen für kleinskalige Prozesse fehlen. Hinter dem Projekt COAST steht daher die Idee, beides unter einen Hut zu bringen: die Entwicklung von Simulationen sowohl auf Organ- als auch auf Zellebene, die zeitgleich miteinander verknüpft werden. Dies war das ambitionierte Ziel von COAST. Neben der spezifischen Aufgabe ISR befasste sich das Projekt auch mit der Frage, ob sich solche Simulationen zur Darstellung verschiedener Körperorgane eignen und untersuchte Möglichkeiten für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Anwendungen für MUSCLE Für all diese Multiskalenkopplungen hat das Projektteam die Berechnungsmethode MUSCLE (Multiscale coupling library and environment) zur Simulation von Multiskalenmodellen entwickelt. Zur Analyse von ISR identifizierte und konstruierte das Team Einskalenmodelle biologischer und dazugehöriger physiologischer Teilprozesse. MUSCLE integrierte diese komplexen Interaktionen nach ihren zeitlichen und räumlichen Abläufen. "Für alle MSM stehen normalerweise bereits Einskalenmodelle zur Verfügung", erklärt Professor Hoekstra, "die schon existieren und nur noch zusammengeführt werden müssen – und genau da setzt MUSCLE an. Der Multiskalenansatz ermöglicht die Verfeinerung eines ursprünglich groben Modells und hilft Biologen, ihr Wissen besser zu organisieren. Diese Organisation macht COAST zu einem qualitativen Modellierungswerkzeug. MUSCLE ist ein Open-Source-Projekt und steht Forschern frei zur Verfügung. Der von COAST entwickelte Rahmen diente dazu, die ISR zugrunde liegenden physiologischen Prozesse zu simulieren und genauer zu erforschen. "Unsere Simulationen ermöglichen uns, Hypothesen zu einfachen Fragestellungen zu testen, beispielsweise "Wann entsteht ISR und wann nicht?", so Professor Hoekstra. Auf Basis dieser Hypothesen können die Biologen dann neue Experimente durchführen und in simulationsbasierten Experimenten die Ursachen von ISR besser verstehen. Der virtuelle physiologische Mensch COAST verfolgt im Zusammenhang mit ISR aber noch ein weiter gefasstes Forschungsziel: die Entwicklung des virtuellen physiologischen Menschen (virtual physiological human, VPH). Dieses Konzept wird derzeit massiv aus dem IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie)-Topf gefördert. Zudem wurde bereits ein großes Exzellenznetzwerk gebildet. Mit EU-Mitteln ist in Europa bereits eine starke VPH-Forschergemeinschaft entstanden. Der VPH ist ein methodologischer und technologischer Forschungsrahmen, der verschiedene kollaborative Forschungsbemühungen in einem gemeinsamen komplexen System bündelt, das Computermodelle zu mechanischen, physiologischen und biochemischen Funktionen des lebenden Menschen integriert. "Aus der IKT-Perspektive ist VPH eine große Herausforderung", erklärt Professor Hoekstra, "und ISR-Analysen sind eine ausgezeichnete Anwendung, die vor allem von der VPH-Forschergemeinde unterstützt wird. Ich bin überzeugt, dass VPH wesentlich zum Gelingen der Ziele der Vision "IKT im Dienste der Gesundheit" beitragen kann, und wir sind bereits auf gutem Weg, diese Gruppen zusammenzuführen." Professor Hoekstra zufolge finanziert die EU derzeit etwa 15 VPH-Forschungsprojekte. "Hier besteht ein enormes Interesse, vor allem an Modellen, die dazu beitragen, die menschliche Physiologie besser zu verstehen und die medizinische Versorgung zu verbessern", erklärt er. "Das Konzept lässt sich in zwei einfachen Sätzen zusammenfassen: vom Molekül zum Menschen, oder von der DNA zur Krankheit." Die VPH-Forschergemeinde ist der ideale Ausgangspunkt für die von COAST gestellten Weichen, denn an dieser Stelle werden die Ergebnisse der IKT-Forschung wirklich nutzbar. "Das Gute daran ist, dass die Modelle bereits validiert sind", sagt Professor Hoekstra. "COAST ist abgeschlossen, aber es gibt Nachfolgeprojekte, beispielsweise das Projekt MEDICCA (Medical devices design in cardiovascular applications) zur Verbesserung medizinischer Geräte: künstliche Herzklappen, Stents, usw." Die Zukunft Professor Hoekstra zufolge gibt das Projekt COAST Forschern die notwendigen Instrumente an die Hand, Multiskalenmodellierung und –anwendungen im Dienste der menschlichen Gesundheit einzusetzen. "Jetzt ist es an der Zeit, diese Anwendung neben der Koronarforschung auch anderen Systemen zuzuführen", wie er meint. "COAST war perspektivisch noch nicht auf die großindustrielle Produktion ausgerichtet, MEDICCA hingegen schon. Das Konzept ist inzwischen ausgereift und kann Unternehmen vorgestellt werden, mit denen wir unsere Ergebnisse durchsprechen können. Dies war bislang noch nicht der Fall." Ein neues Projekt wird im Oktober 2010 an den Start gehen und bis 2013 laufen. Es wird Computer entwickeln, die die Funktion von Multiskalenmodellen unterstützen und die von COAST entwickelte Paradigmen verwenden. Dabei sollen Rechner europaweit vernetzt und diverse Fachbereiche wie Fusionsforschung, Nanomaterialforschung, Hydrologie und vor allem auch VPH zusammengeführt werden.