Kollektive Kognition bei Ameisen, ergänzt durch individuelles Bewusstsein
Biologische Ensembles, die kollektive Entscheidungen treffen, faszinieren uns schon lange: Fischschulen, Vogelschwärme, sogar das Immunsystem. Welches sind die Kommunikationskanäle? Wie werden die Aktionen den Individuen zugeordnet? Diese Fragen stellen eine Herausforderung dar, wie Ofer Feinerman erklärt: „Unsere eigenen Gehirne sind nicht dafür ausgelegt, sowohl die winzigen Details als auch die großmaßstäblichen Ergebnisse eines derart komplexen, verteilten kognitiven Systems gleichzeitig wahrzunehmen.“ Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, rief Feinerman mit Unterstützung des Europäischen Forschungsrats das Projekt ANTSolve ins Leben, das eines der Hindernisse auf dem Weg zu einem besseren Verständnis dieser Phänomene beseitigen soll: die Seltenheit umfassender, multiskaliger, empirischer Daten über diese komplexen Systeme. „Wir wollten die Leistungen von Individuen mit denen einer Gruppe vergleichen, um festzustellen, ob die kollektive Wahrnehmung der Gruppe effektiver ist.“ Alle Menschen, die ein großes Sofa durch enge Stellen manövrieren mussten, haben das vielleicht schon einmal erlebt. Feinermans Neugierde wurde geweckt, als er beobachtete, wie das Katzenfutter bei seinem Kollegen aus der Schüssel heraus und über den Boden wanderte. „Wir hatten das große Glück, dass sich sein neues Zuhause über einem riesigen Ameisennest der Art Longhorn Crazy Ant (Paratrechina longicornis) befand. Das war vor mehr als zehn Jahren – und wir sind immer noch dabei, dieses faszinierende Verhalten zu untersuchen“, fügt er hinzu.
Merkmale des Problemlösungsprozesses offenbart
Die kognitiven Prozesse im Gehirn beruhen auf komplexen neuronalen Interaktionen, die schwer messbar und zu entschlüsseln sein können. Bei der Entscheidungsfindung konkurrieren beispielsweise die beteiligten neuronalen Prozesse zwischen zwei möglichen Zukunftsversionen. Obwohl es sich dabei um ein etabliertes Modell handelt, sind die Prozesse schwer zu identifizieren und nachzuweisen. „Wenn lasttragende Ameisen zwischen zwei Optionen wählen müssen, spiegelt sich der gesamte Prozess direkt in den Bewegungen und Richtungsänderungen der Last wider. Das ist ein Beispiel dafür, dass Ameisen über eine kollektive Kognition verfügen, die experimentell zugänglich ist“, sagt Feinerman. Um ihnen die Möglichkeit zu geben, dies in Aktion vorzuführen, stellten Feinerman und sein Team die Ameisen vor Probleme, die sie lösen mussten. Sie sollten zum Beispiel mit Steinen durchsetzte Gebiete, Orte, an denen eine Rückwärtsbewegung erforderlich ist, bevor die Ameisen sich vorwärts bewegen können, Szenarien, in denen der Nesteingang zu klein ist, um mit getragener Last hindurchzupassen, und Situationen meistern, in denen mehrere Meinungen oder Möglichkeiten für den Heimweg konkurrieren und Entscheidungen getroffen werden müssen. „Wir haben ihr Leben so kompliziert wie möglich gestaltet“, berichtet Feinerman, der alle Experimente vor Ort und nicht im Labor durchführte.
Komplementäre Systeme der Kognition
Das Team filmte die Ameisen und die Lasten, die sie trugen, um Parameter wie die Wegverläufe, den Punkt, an dem sie die Last aufnahmen und sich von ihr lösten, ihre Bewegungen und Drehungen zu messen. „Um diese Elemente in ein Gesamtbild zu bringen, haben wir ein Modell aus der Physik, das koordinierte Zustände von Molekülen in einem Magneten beschreibt, mit einer ‚Physik-Engine‘ kombiniert. Dabei handelt es sich um eine Software, die oft in Computerspiele eingebaut wird, damit die Objekte im Spiel den Gesetzen der Physik gehorchen“, erklärt Feinerman. „Dieses relativ einfache Modell wurde als Ausgangspunkt verwendet, um zu beschreiben, was die Ameisen tun.“ Im Rahmen des Projekts wurde festgestellt, dass das System der Ameisen auf zwei Quellen der Kognition beruht: auf der Wahrnehmung, die im Gehirn einer einzelnen Ameise entsteht, und auf der Wahrnehmung, die sich aus den Interaktionen zwischen vielen Ameisen ergibt. Letztere ähnelt dem oben beschriebenen Modell der Moleküle. Diese beiden Quellen der Kognition ergänzen sich gegenseitig und bilden die kollektive Kognition der Kolonie. „Wenn die Ameisen zum Beispiel eine Last durch ein Steinfeld bewegen, hilft ihnen die kollektive Bewegung, sie über die Steine zu rollen und erfolgreich mit ihr zum Nest zu gelangen“, berichtet Feinerman. Aber wenn die Ameisen nur als Kollektiv vorgehen würden, würden sie unweigerlich in Sackgassen stecken bleiben. „Hier kommen einzelne Ameisen zur Hilfe, denn ihr Navigationswissen hilft ihnen, die Gruppe aus Sackgassen zu befreien, damit sie weiter vorankommen kann.“
Menschen und Ameisen: Wie unterschiedlich lösen sie Probleme?
Kooperativer Transport wird nur von zwei Tierarten praktiziert: Menschen und Ameisen. Deshalb wollte das Team vergleichen, wie sich die Wahrnehmung von Ameisen und Menschen verändert, wenn sie sich zu Gruppen zusammenschließen, um diese Rätsel zu lösen. Um einen besseren Einblick in die Art und Weise zu erhalten, wie Individuen und große Gruppen beider Spezies gemeinschaftlich Probleme lösen, wurden sie mit der Klavieraufgabe beauftragt, d. h., wie ein großes, seltsam geformtes Klavier durch eine Engstelle zu bewegen ist. Das Fazit fasst Feinerman folgendermaßen zusammen: „Wir fanden heraus, dass, wenn das Kommunikationsschema gleichgesetzt wurde, Gruppen von Ameisen besser abschneiden als das Individuum, während das Gegenteil für Menschen gilt. Wir schneiden besser ab, wenn wir allein sind.“
Schlüsselbegriffe
ANTSolve, Ameisen, neuronaler Prozess, Entscheidungsfindung, kollektive Kognition, Bewusstsein, Kognition, biologische Ensembles, Physik-Engine, kollaboratives Problemlösen