Eine Erklärung der Navigationsfähigkeit unseres Gehirns anhand von fliegenden Fledermäusen
Der Neurowissenschaft ist bereits seit Jahren bekannt, dass die Hippocampusformation im Gehirn Neuronen enthält, die eigens auf die räumliche Orientierung spezialisiert und von entscheidender Bedeutung für das Gedächtnis –besonders das räumliche Gedächtnis – sind. „Zu diesen Neuronen zählen Ortszellen, die die Basis für die räumliche Orientierung bilden“, erklärt Nachum Ulanovsky, Projektkoordinator von NATURAL_BAT_NAV und Professor für Gehirnforschung am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Israel. „Gitterzellen fungieren hingegen wie ein Lineal und ermöglichen den Tieren den umgebenden Raum zu vermessen.“ Darüber hinaus gibt es auch Kopfrichtungszellen, die als eine Art Kompass agieren, und Grenzzellen, die die Grenzen des gegebenen Raumes identifizieren. Gemeinsam machen diese Zellen es uns möglich, uns durch unsere Umgebung zu bewegen und uns in ihrem Kontext zu verorten.
Ein naturalistischer Ansatz
Die Neurowissenschaft ist gerade erst im Begriff, zu verstehen, wie genau die Navigationskapazitäten der Hippocampusformation tatsächlich funktionieren. „In den Neurowissenschaften werden Experimente normalerweise in kleinen, kontrollierten Umgebungen durchgeführt“, so Ulanovsky. „Die Navigation in der natürlichen Welt sieht völlig anders aus. Daher wollten wir ein Projekt mit offenem Ende ins Leben rufen, das einen naturalistischeren Ansatz verfolgt.“ Zu diesem Zweck betrachtete Ulanovsky nicht die herkömmlichen Laborexperimente mit Mäusen in einem Labyrinth, sondern einen Versuchsaufbau mit einem 200 Meter langen Tunnel und einer Gruppe von Fledermäusen. Da Fledermäuse sich in alle drei Dimensionen bewegen, schnell fliegen und große Gebiete abdecken, sind sie ideal geeignet, um anhand ihres Verhaltens die Rolle des Hippocampus im Gehirn bei der Navigation über längere Strecken hinweg zu ergründen. Die Fledermäuse wurden vorsichtig mit drahtlosen neurophysiologischen Geräten ausgestattet, um die nötigen Daten zu erfassen und zu speichern. Die Bewegungen der Tiere wurden dann mithilfe eines GPS-ähnlichen Systems nachverfolgt, das eine hervorragende Positioniergenauigkeit bot.
Die Nachverfolgung der Gehirnleistung
Ulanovsky gelang es, zu zeigen, dass Fledermäuse, die auf konkrete Ziele zufliegen, Neuronen verwenden, die sowohl die Richtung als auch die Entfernung abbilden. Dieser sogenannte Vektor wurde durch diese Versuche zum ersten Mal im Hippocampus beobachtet. „Wir konnten zeigen, dass es bestimmte Neuronen im Hippocampus gibt, die die Position anderer Fledermäuse darstellen“, fügt Ulanovsky hinzu. „Wir nannten diese ‚soziale Ortszellen‘. Ihnen könnte zum Beispiel auch dabei eine wichtige Rolle zukommen, wie es Fußballerinnen und Fußballern gelingt, einer Mitspielerin oder einem Mitspieler einen Pass zuzuspielen.“ Die Nachverfolgung der Fledermäuse trug auch dazu bei, dass Ulanovsky bestimmte Neuronen ausmachen konnte, die Fledermäusen die dreidimensionale Navigation und die Navigation großer Räume erleichtern. Ulanovsky und sein Team fanden heraus, dass Fledermäuse eine Art mehrstufigen Navigationscode verwenden, um ihre Position im 200 Meter langen Tunnel zu repräsentieren. „Interessant war dabei, dass die im Labor geborenen Fledermäuse, die sich noch nie in solch großen Räumen bewegt hatten, denselben Navigationscode einsetzten wie wilde Fledermäuse“, merkt Ulanovsky an. „Das legt nahe, dass dieser mehrstufige Code nicht auf Erfahrung beruht, sondern sehr stark verankert und grundlegend ist. Solche Versuche zum natürlichen Verhalten können zu überraschenden Ergebnissen führen.“ Was Anwendungen im echten Leben angeht, ist Ulanovsky der Meinung, dass es noch zu früh ist, um einzuschätzen, welche Folgen diese Grundlagenforschung auf die Behandlung von Gehirnerkrankungen haben könnte. Zweifelsohne gibt es jedoch Potenzial in diesem Bereich, da die Hippocampusformation auch für die Bildung von Erinnerungen verantwortlich ist und bei der Alzheimer-Krankheit als erste Region des Gehirns Veränderungen aufweist. Ein weiterer Bereich mit enormem Potenzial ist die Feststellung, dass Fledermäuse einen mehrstufigen Code zur Navigation großer Räume verwenden. Dieses Ergebnis könnte sich auf die Entwicklung von Navigationsalgorithmen auswirken, darunter auch auf jene, die auf maschinellem Lernen beruhen.
Schlüsselbegriffe
NATURAL_BAT_NAV, Neurobiologie, Gehirn, Fledermäuse, Neuronen, Hippocampus, Navigation, Neurowissenschaft