Elektronisches Bremsvermögen hat Potenzial
Durchqueren Ionen Feststoffe, Flüssigkeiten und Gase, findet ein Prozess der Neutralisation und des Energieverlustes statt. Dieser Prozess des elektronischen Bremsvermögens ist von grundlegender Bedeutung für ein besseres Verständnis der Eigenschaften der Materie, was sicherlich erklärt, warum er seit mehr als einem Jahrhundert ausgiebig untersucht wurde und heute weitgehend erforscht ist ... Zumindest in Bezug auf Systeme nahe am Gleichgewichtszustand. Dynamische Systeme zu verstehen, ist jedoch eine ganz andere Sache, wie Professor Emilio Artacho vom nanoGUNE Cooperative Research Center (CIC) erklärt: „Ein tiefergehendes Verständnis dynamischer Vielteilchen-Quantensysteme ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten wissenschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Berechnungen von Grundprinzipien, etwa die quantitative Simulation und Prognose der Eigenschaften von Materie durch umfassenden Einsatz von Supercomputern, erleichtern es, die Eigenschaften vieler Feststoffe, Flüssigkeiten oder Gase im oder nahe am Gleichgewicht vorherzusagen. Aber bei diesen Berechnungen hinkt man weit hinterher, wenn es um nicht im Gleichgewicht befindliche Situationen geht: Wir haben eine ganz gute Vorstellung von den Dingen, die passieren, aber wir können sie nicht genau vorhersagen.“ Prognosen dieser Art sind ihre Mühe wert. Die Abläufe des elektronischen Bremsvermögens in Festkörpern sind eine wesentliche Stufe in den Prozessen der Strahlenschädigung, die äußerst wichtig sind, um die Reaktionen von Kernmaterialien, die Auswirkungen kosmischer Strahlung auf Raumschiffe und Besatzungen sowie einige Formen der Strahlentherapie zu verstehen und zu kontrollieren. Nachdem das nanoGUNE CIC bereits vor über einem Jahrzehnt einen Forschungsstrang zur Berechnung von Grundprinzipien für die Prozesse innerhalb des elektronischen Bremsvermögens begonnen hat, ist es heute führend auf diesem Gebiet. So konnten Prof. Artacho und sein Team mit dem Projekt ElectronStopping (Electronic stopping power from first principles) einen Schritt weiter gehen, indem man versuchte, diese Prozesse in Echtzeit zu simulieren. Obgleich noch viel geforscht werden muss, um deren Näherungen zu verbessern und fehlende Effekte zu berücksichtigen, erklärt Prof. Artacho, dass der Ansatz mit sehr unterschiedlichen Arten von Systemen, von einfachen Metallen bis hin zu DNS, umgehen könne. Das Projekt hätte grundlegende, technische und angewandte Fortschritte vorzuweisen, wie er betont. „Aus technischer Sicht haben wir eine interessante Verbindung zwischen den von uns am Computer gelösten Gleichungen und den gekrümmten Räumen der allgemeinen Relativitätstheorie hergestellt; zwei Gebieten, die sonst weit auseinander liegen. Diese Verknüpfung gestattete es uns, neue numerische Verfahren zur Verbesserung unserer Berechnungen vorzuschlagen. Wir konnten außerdem elektronische Bremsvorgänge in verschiedenen Systemen von Halbleitern bis hin zu Übergangsmetallen beschreiben, und wir haben die (niederenergetische) Reaktion von flüssigem Wasser auf Kohlenstoffionen, wie sie in der Ionentherapie angewandt wird, erforscht.“ Neben diesen Fortschritten hat das Projekt eine unerwartete dynamische Instabilität bei diesen Prozessen vorhergesagt. „Alle bisherigen Theorien des elektronischen Bremsvermögens haben eine Art stationäres System vorausgesetzt und erwartet, durch das Ionen auf sanfte Weise Energie verlieren. Unsere Berechnungen haben jedoch einen unerwarteten ‚flatternden‘ Effekt in den tiefen Elektronen gezeigt, die an ein schweres Projektilion gebunden sind; eine Schwingung analog dem Flattern einer Fahne im stetigen Wind. Das könnte auf tiefgreifende Verbindungen zu anderen Nichtgleichgewichtssystemen hindeuten.“ Durch besseres Verständnis von Strahlenschädigungsvorgängen ermöglicht ElectronStopping den Forschern, diese zu kontrollieren oder besseren Schutz vor ihnen zu gewährleisten. Während Prof. Artacho eingesteht, dass schwer vorherzusehen ist, wie die Gesellschaft die Projektergebnisse nutzen wird, hofft er, dass Ingenieure und Unternehmer schnell über vermarktungsfähige Produkte nachdenken werden. Unter der Finanzierung von Horizont 2020 hat bereits ein Folgeprojekt mit der Bezeichnung ESC2RAD begonnen. In seinem Rahmen werden die Verfahren von ElectronStopping zur Charakterisierung von für die Weltraumforschung relevanten Strahlenschädigungsprozessen sowohl im Raumschiff als auch unter Marsbedingungen angewandt. Prof. Artacho und sein Team werden auch neue theoretische Konzepte entwickeln, um elektronische Bremsvorgänge noch besser zu verstehen.
Schlüsselbegriffe
ElectronStopping, Strahlenschäden, elektronisches Bremsvermögen, Strahlentherapie, Nuklearabfälle