Löcher graben und Wälle bauen für den Erdbebenschutz
Im Bereich der Erdbebentechnik kann die Verstärkung von seismischen Wellen, d.h. von Standorteffekten, die Wirkung eines Erdbebens in spezifischen Bereichen steigern. Dies war im Jahr 1985 bei dem Erdbeben in Mexiko-Stadt der Fall. Da das Fundament der Stadt ein altes Flussbett bildet, war dieses Erdbeben besonders verheerend und tödlich. Wenn seismische Wellen durch weiche angeschwemmte Oberflächenschichten dringen – so wie dies in Mexiko-Stadt der Fall war – oder diese sich auf starken topographischen Irregularitäten ausbreiten, kann das Phänomen der Refraktion und Streuung die Amplitude des sich bewegenden Bodens verstärken. Was kann also getan werden, um diese anfälligen Bereiche zu schützen? Für die Forscher des Projekts ANAMORPHISM liegt die Antwort darin, ein Loch auszuheben. Löcher und Pfeiler Die ANAMORPHISM-Forscher haben eine Methode entwickelt und getestet, bei der Bohrlöcher in genau aufeinander abgestimmten Abständen vor einem Bereich positioniert werden, der geschützt werden soll. Hierdurch wird im Grunde genommen eine menschengemachte Barriere errichtet, mit der sich die Schockwellen eines Erdbebens ableiten lassen. Im Zuge von Tests im französischen Grenoble wurden drei Reihen mit jeweils 10 fünf Meter tiefen Löchern ausgehoben. Bei der Erzeugung eines geringfügigen 50-Hertz-Oberflächenerdbebens lenkte das ANAMORPHISM-System die Wellen erfolgreich ab. „Dieses Experiment zeigt, dass natürliche Böden, die im Dezimeter- bis Metermaßstab bautechnisch verändert werden, in einem weitaus größeren Maßstab mit seismischen Wellen interagieren können, wenn die globalen Eigenschaften des Mediums modifiziert worden sind“, sagt Projektkoordinator Sébastien Guenneau. Das System kann zudem auf den Schutz von Küstenregionen gegenüber eintreffenden Tsunamiwellen angepasst werden, indem die Wellen an Städten vorbei geleitet werden, anstatt mitten hindurch zu fließen. Anstelle der Verwendung von Bohrlöchern, wird bei dem Projekt allerdings eine Reihe von Pfeilern im Wasserbett errichtet. So wie Bohrlöcher seismische Wellen ableiten, lenken die Pfeiler sich annähernde Wellen ab. Eine seismische Tarnkappe Laut Guenneau ist das ANAMORPHISM-System eine Adaption des Tarnkappenkonzepts, das von dem britischen Theoriephysiker John Pendry entwickelt wurde. „Während die Tarnkappe Lichtwellen um ein verborgenes Objekt lenkt, leitet die Technologie von ANAMORPHISM Schockwellen von Erdbeben und Tsunamis ab“, erklärt Guenneau . „Wir wenden im Grunde genommen die gleichen Instrumente auf ein anderes Konzept an.“ Guenneau weist allerdings darauf hin, dass es noch weiterer tiefgreifender Analysen bedarf, um die erforderliche Bohrlochanordnung zu erreichen, bevor die Tarnkappen verwendet werden können. Guenneau merkt an, dass die damit verbundene theoretische Forschung nahe legt, die Bohrlöcher durch Metazylinder mit seitlichen Aussparungen zu ersetzen, da diese die seismischen Oberflächenwellen abschwächten und die Menge der seismischen Energie, die von dem Metamaterial reflektiert wird, reduzierten. „Die Dämpfung der seismischen Wellen bedeutet, dass ein Teil der Energie, die diese tragen, in eine andere Form von Energie wie Schall oder Wärme umgewandelt wird“, sagt Guenneau. Obgleich weitere Forschung und Experimente erforderlich sind, ist Guenneau dennoch zuversichtlich, dass das ANAMORPHISM-Konzept im Laufe der Zeit nach oben skaliert und zum Schutz von Häfen und Städten genutzt werden kann. Das Projekt hat bereits Anlass zu zwei Patenten für seismische Verteidigungsstrukturen und zu einem Patent für eine neue Generation von Molen im Hinblick auf den Schutz von Küstenregionen vor Tsunamis gegeben. „Sobald ein größerer Maßstab erreicht worden ist, könnte dieses Verfahren Hunderttausende Menschenleben retten“, sagt Guenneau. „Stellen Sie sich eine Stadt der Zukunft vor, die über ausgehobene Bohrlöcher oder Betonsäulen vor seismischen Oberflächenwellen geschützt ist“.
Schlüsselbegriffe
ANAMORPHISM, Erdbeben, Tsunamis, seismische Wellen, Tarnkappe