Wissenschaft ohne Grenzen? Ein europäischer Forschungsraum
Die Europäische Kommission hat auf Initiative von Forschungskommissar Philippe Busquin eine Mitteilung verabschiedet, in der eine Strategie für eine grenzüberschreitende Forschungspolitik in Europa auf Grundlage einer besseren Zusammenarbeit zwischen Forschern in den einzelnen Mitgliedstaaten dargelegt wird. Kommissar Busquin und die übrigen Kommissionsmitglieder sind der Auffassung, daß das "Europäischer Forschungsraum" genannte Konzept zur gemeinsamen Nutzung von wissenschaftlichen Ressourcen in Europa führen sowie auf längere Sicht Arbeitsplätze schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit Europas stärken wird. Von der Politik erhofft man sich neue Anstöße für die europäische Forschung und die Industrie. "Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Wissenschaft und der Technologie sein", so die Mitteilung. Jedoch die Tatsache, daß Europa seine Möglichkeiten auf diesem Gebiet noch nicht voll nutzt, gebe Anlaß zur Sorge: "Wenn die Europäer nicht gemeinsam etwas zu ihrer Verbesserung unternehmen, droht Europa ein Verlust an Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Weltwirtschaft. Damit wird sich der Abstand zu den technologisch führenden Ländern weiter vergrößern. Europa läuft Gefahr, den Entwicklungssprung zur wissensbasierten Wirtschaft nicht zu schaffen... Mehr als je zuvor erweisen sich die Aktivitäten in den Bereichen Forschung und technologische Entwicklung als die zukunftsträchtigsten." "Wenn wir beim Wissen nicht in vorderster Reihe stehen, ist dies ein Rückschritt", so Forschungskommissar Busquin kürzlich. Daneben vertritt er die Auffassung, daß der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Forschungspolitik von grundlegender Bedeutung sein wird, wenn die EU weltweit führend in der wissenschaftlichen und technologischen Forschung sein soll. In der Mitteilung wird ebenfalls der folgende Standpunkt vertreten: "Wenn technologischer Fortschritt die Arbeitsplätze von morgen schafft, dann ist es die Forschung, die für die Arbeitsplätze von übermorgen verantwortlich ist". Aus der Mitteilung geht hervor, daß die EU heute für Forschungszwecke im Durchschnitt bescheidene 1,8 Prozent seines BIP ausgibt (die USA hingegen 2,8 Prozent und Japan 2,9 Prozent), und die europäische Forschung fragmentarisch und unzureichend koordiniert erscheint, wobei das Fünfte FTE-Rahmenprogramm der EU nur 5,4 Prozent der europäischen Forschungsförderung darstellt und nationale Forschungsprogramme sich vorrangig mit einzelstaatlichen Themen beschäftigen. "Die Forschungspolitik der Mitgliedstaaten und die der Union laufen parallel und sind zuwenig aufeinander abgestimmt", so die Mitteilung, die gleichzeitig warnt, daß die Situation durch die Erweiterung nicht besser wird, da "die Vision von einem Europa der 25 oder der 30 Länder in greifbare Nähe rückt, das mit den bisherigen Methoden jedoch nicht organisierbar ist." "Die Forschungsbemühungen und -systeme der einzelnen Länder sind so schlecht koordiniert, voneinander abgeschottet und in sich geschlossen, und die rechtlichen und administrativen Regelungen so unterschiedlich, daß staatenübergreifende Investitionen in den Wissenssektor nicht ihre volle Wirkung entfalten können." Aus diesen Gründen ruft die Mitteilung zur Vernetzung der besten europäischen wissenschaftlichen Ressourcen, zur Entwicklung eines europäischen Ansatzes für große Forschungsinfrastrukturen und zur Verbesserung der Koordination und der Mobilität der Wissenschaftler auf. Wie Forschungskommissar Busquin unterstreicht, brauche Europa jetzt eine gemeinsame Forschungspolitik, die sich nicht auf die Durchführung eines Rahmenprogramms beschränkt, sondern mit der Beschäftigungspolitik sowie der kognitiven und Wissensgesellschaft verknüpft ist. In der Mitteilung werden daher folgende Verbesserungen empfohlen: - Vernetzung der europäischen Spitzenforschungszentren und Schaffung virtueller Zentren mit Hilfe der neuen interaktiven Kommunikationsinstrumente; - ein gemeinsamer Ansatz zur Erhebung des Finanzierungsbedarfs und zur Finanzierung großer Forschungsinfrastrukturen in Europa; - bessere Abstimmung der Forschungsaktivitäten auf nationaler und EU-Ebene und Herstellung besserer Verbindungen zwischen den diversen Organisationen für wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit in Europa; - gezielterer Einsatz der verschiedenen Instrumente und Ressourcen zur Ankurbelung der Investitionstätigkeit in den Bereichen Forschung und Innovation, beispielsweise über indirekte Unterstützung der Forschung, Patente oder den Einsatz von Risikokapital; - Entwicklung eines gemeinsamen wissenschaftlich-technischen Referenzsystems zur Umsetzung der Politik; - Ausbau der Humanressourcen und Erhöhung der Mobilität durch: - - Steigerung der Mobilität der Forscher und Erweiterung der Karrieremöglichkeiten in der Wissenschaft um eine europäische Dimension; - - Stärkung der Präsenz und der Position der Frauen in der Forschung; - - Förderung des Interesses der Jugend an Forschung und wissenschaftlicher Berufswahl; - Verbesserung des innereuropäischen Zusammenhalts im Bereich Forschung auf der Basis der besten Erfahrungen beim Wissenstransfer auf regionaler und lokaler Ebene sowie der Aufwertung des Beitrages der Regionen an der europäischen Forschung; - Annäherung zwischen Wissenschafts-, Wirtschafts- und Forschungskreisen aus West- und Osteuropa; - Steigerung der Attraktivität des europäischen Raumes für Forscher aus aller Welt; - Einhaltung gemeinsamer sozialer und ethischer Werte im technisch-wissenschaftlichen Bereich. Herr Busquin sieht die Europäische Kommission als Koordinator bei der Verwirklichung seiner Vision eines gemeinsamen Forschungsraumes und ruft gleichzeitig die Mitgliedstaaten auf, ihre nationalen Forschungsprogramme auch für Ausländer zu öffnen. Nach Kommissar Busquins Vorstellungen sollen insbesondere die Möglichkeiten und Kenntnisse Europas in der Forschung besser veranschaulicht werden, so daß die entsprechenden Investitionen in Regionen mit besonderen Anforderungen im Bereich FTE erfolgen und Wissenschaftler bei ihrer Suche nach den am besten geeigneten Forschungspartnern unterstützt werden können. Für Angelegenheiten im Zusammenhang mit der besseren Koordinierung der europäischen Forschungseinrichtungen könnte auf der Konferenz der Europäischen Kommission und der Europäischen Wissenschaftsstiftung zu diesem Thema im zweiten Halbjahr dieses Jahres in Straßburg ein Rahmen eingerichtet werden. Die Mitteilung befürwortet außerdem engere Verbindungen zwischen den Organisationen für wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit in Europa (wie Eureka, EWS, ESA, CERN, COST usw.), wobei dies durch einen Rat aus führenden Vertretern, die sich regelmäßig treffen, erreicht werden könnte. Außerdem könnte der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission eine wichtige Rolle bei der Erstellung eines gemeinsamen wissenschaftlich-technischen Referenzsystems zugedacht werden. Die genannten Maßnahmen sollen mit Maßnahmen zur Förderung von Forschungs-Spinoffs, wie z.B. Maßnahmen zu Patenten und zum einfacheren Zugang zu Risikokapital, kombiniert werden. Herr Busquin ist weiterhin der Auffassung, daß eine anstehende Mitteilung der Kommission über Maßnahmen zu Patenten von entscheidender Bedeutung für die Umsetzung eines gemeinsamen Patents für den Schutz von Innovationen sei. "Für die europäische Forschung ist es wichtig, daß das europäische Patent so bald wie möglich in Angriff genommen wird. Es muß erschwinglich sein und den Kosten eines europäischen Patents entsprechen, das eine begrenzte Zahl von Ländern betrifft", so die Mitteilung; weiter heißt es: "Im Hinblick auf die Verbesserung der Auswirkung der europäischen Forschungsmaßnahmen im Bereich der Innovation sind die Relevanz und die Konsistenz der der Umsetzung öffentlicher Forschungsprogramme zugrunde liegenden Regelungen bezüglich des geistigen Eigentumsrechts ebenfalls verbesserungswürdig." Maßnahmen zum Schutz des geistigen Eigentums könnten auch in Form von Informationssystemen und Systemen zum Austausch bestmöglicher Praktiken auf diesem Gebiet erfolgen, die von nationalen und europäischen Organisationen zur Unterstützung der Forschung und Entwicklung eingerichtet werden. Besondere Sorge macht Forschungskommissar Busquin die offensichtliche Gleichgültigkeit der Europäer gegenüber der Wissenschaft. Schulabgänger scheuen z.B. vor wissenschaftlichen Berufen zurück, und dies trotz ihrer großen Erwartungen an die Rolle, welche die Wissenschaft und Technik für ihr späteres Leben spielen wird, und der Tatsache, daß Wissenschaft und Technik 25 bis 50 Prozent des Wirtschaftswachstums ausmachen. Diejenigen, die dennoch eine Wissenschaftlerlaufbahn einschlagen, bringen ihr Wissen außerhalb Europas ein und tragen so zum "Brain Drain", dem Wegzug der aussichtsreichsten europäischen wissenschaftlichen Talente, bei. Aus in der Mitteilung enthaltenen Statistiken geht z.B. hervor, daß die Zahl der europäischen Akademiker in den USA doppelt so hoch wie die Zahl der amerikanischen Studenten vergleichbaren Niveaus in Europa ist: "50 Prozent aller europäischen Studenten, die in Amerika einem Doktorandenstudium nachgehen, bleiben für längere Zeit dort, manchmal sogar für immer", so die Mitteilung. Eine Eurobarometer-Meinungsumfrage deutet jedoch darauf hin, daß trotz dieser Hindernisse 70 Prozent aller Europäer erwarten, daß Europa bei der Gestaltung der Forschung in der Zukunft eine aktive Rolle spielen wird. Dazu müßten die Mitgliedstaaten laut Kommission über ihre Landesgrenzen hinausblicken, um ihr Forschungspotential voll zu nutzen. "Die Zeit drängt", so die Warnung der Mitteilung. "Wenn nicht bald ein entschlossener gemeinsamer Vorstoß unternommen wird, um die europäische Forschung zu stärken und besser zu organisieren, besteht die Gefahr, daß Europa die mit dem Übergang zur wissensbasierten Wirtschaft und zur Wissensgesellschaft einhergehenden Chancen nicht voll nutzen kann." Forschungskommissar Busquin ist der Meinung, daß das Rahmenprogramm weiterhin das Finanzierungsinstrument zur Umsetzung der europäischen Forschungspolitik bleiben solle. Sollte das Konzept des Europäischen Forschungsraums weiter verfolgt werden, müsse das Sechste FTE-Rahmenprogramm völlig neu durchdacht werden. An erster Stelle müsse allerdings eine großangelegte Debatte zwischen den europäischen Institutionen, Vertretern von Wissenschaft und Wirtschaft und den europäischen Bürgern stehen, wie die Mitteilung vermerkt. Die Ergebnisse der Bewertung des Rahmenprogramms nach fünfjähriger Laufzeit und der spezifischen Programme werden ebenfalls Mitte des Jahres vorliegen und als Grundlage für die Diskussion über das Sechste Rahmenprogramm und die ersten Gespräche über den gemeinsamen Forschungsbereich herangezogen. Forschungskommissar Busquin möchte eine möglichst breite Bevölkerungsgruppe in die Debatte über die europäische Forschung einbeziehen und die Diskussion nicht nur auf die bestmögliche Umsetzung der Politik, sondern auch auf kontroverse, emotionsgeladene Fragen der Wissenschaft ausdehnen. Zur Anregung der Debatte liegt die elektronische Version der Mitteilung unter folgender Adresse vor: http://europa.eu.int/comm/research/area.html Die Leser werden im ersten Halbjahr dieses Jahres um ihre Meinung zum Inhalt der Mitteilung gebeten, und sofern nicht um Vertraulichkeit gebeten wird, werden die Kommentare im Rahmen einer Online-Diskussion veröffentlicht. Die Kommission verlangt nun eine Prüfung und Aussprache über die Mitteilung im Europäischen Parlament. Als erstes wird sie von den Forschungsministern im Rahmen eines informellen Treffens am 6. März in Lissabon geprüft. Am darauffolgenden Tag haben führende Wissenschaftler Gelegenheit, über die Mitteilung zu diskutieren. Darüber hinaus wird sie als Teil des Beitrags der Kommission zum europäischen Arbeitsplätze-Gipfel Ende März in Lissabon vorgestellt. Wenn alles wie vorgesehen läuft, dürfte die Kommission im Juni so weit sein, daß sie den Forschungsrat zur Genehmigung des Beginns der Arbeit an den einzelnen Themen der Mitteilung auffordern kann. "Die Idee ist nicht neu, doch nun scheinen die Bedingungen zu bestehen, um mit ihr zu beginnen", so die Mitteilung.