Ganzheitliches Fischereimanagement in der Nordsee
Wie von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen und anderen Einrichtungen hervorgehoben wurde, führten die Defizite eines Fischereimanagements, das auf eine einige Fischart konzentriert ist, zu Bemühungen, dieses durch einen Ansatz zu ersetzen, bei dem zur Beurteilung und Bewirtschaftung der Fischbestände das gesamte Ökosystem berücksichtigt wird. Der größte Makel dieses auf eine einzige Fischart ausgerichteten Fischereimanagements besteht in der Tatsache, dass die jeweilige Spezies bei der Entwicklung von Bewirtschaftungsverfahren nicht im Kontext ihres Ökosystems betrachtet wird. Es wird nicht berücksichtigt, wie sich Wechselwirkungen mit anderen Arten auf die Populationsdynamik auswirken, weshalb ein ganzheitlicher Ansatz benötigt wird. Das Team des EU-geförderten Projekts GADCAP (Implementation of a multispecies model GADGET to the ecosystem of Flemish Cap and incorporation to the fisheries stock assessment of NAFO; a case study), das von Prof. Dr. Perez-Rodriguez Alfonso geleitet wird, wendete in den vergangenen zwei Jahren einen solchen Ansatz an der Flämischen Kappe an. Das Ökosystem dieses Gewässers ist vergleichsweise simpel aufgebaut: Etwa 85 % der gesamten Biomasse entfallen auf Kabeljau, Rotbarsch und Garnelen, es liegt relativ isoliert, die Spezies interagieren recht stark miteinander und es sind in großem Umfang hochwertige Daten aus wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Untersuchungen verfügbar, die dieses Gebiet zu einer idealen Testumgebung machen. In diesem exklusiven Interview mit research*eu Ergebnisse spricht Prof. Dr. Rodriguez über die Ergebnisse des Projekts und wie sie letztendlich dazu beitragen werden, die miteinander verknüpften Faktoren zu definieren, welche die Dynamik von Kabeljau-, Rotbarsch- und Garnelenbestände der Flämischen Kappe bestimmen. Was sind ihrer Ansicht nach die größten Defizite des auf eine einzelne Spezies ausgerichteten Ansatzes des Fischereimanagements? Nun, dieser Ansatz kann für kommerzielle Arten anwendbar sein, die keine Fressfeinde haben (oder im Vergleich zu anderen Todesursachen nur selten gefressen werden) und sich von Komponenten des Ökosystems ernähren, die derzeit nicht kommerziell genutzt werden (etwa Zooplankton und Phytoplankton). Dies ist jedoch nur selten der Fall, und die meisten kommerziellen Spezies interagieren stark mit anderen Arten – nicht nur mit Fressfeinden, sondern auch mit Nahrungskonkurrenten. Wenn die Interaktion zwischen Spezies in diesen Fällen nicht beachtet wird, könnte die Populationsproduktivität überschätzt und so schließlich der kurz- und langfristig prognostizierte Fischbestand stark über dem tatsächlichen Werten liegen. Dies kann wiederum zu einer Überfischung der Bestände führen, und wenn dieser Fehler langfristig nicht behoben wird, können überstrapazierte Fischpopulationen schrumpfen oder zusammenbrechen. Wie kann der auf mehrere Spezies ausgerichtete Ansatz zu besseren Ergebnissen führen? Bei dem Multi-Spezies-Ansatz werden, im Gegensatz zum Einzel-Spezies-Ansatz, die wichtigsten Wechselwirkungen mit anderen kommerziellen Spezies des Ökosystems berücksichtigt. Zwar funktioniert die rückblickende Beschreibung und Modellierung beim Multi-Spezies-Ansatz nicht notwendigerweise besser als beim Einzel-Spezies-Ansatz, es wird jedoch erwartet, dass die kurz- und langfristige Vorhersage im ganzheitlichen Ansatz zuverlässiger sein wird. Dies liegt daran, dass bei Prognosen die nahrungsbezogenen Interaktionen und die komplexen Wechselwirkungen mit Fressfeinden und Konkurrenten explizit berücksichtigt werden können, um die Dynamik kommerzieller Populationen vorauszuberechnen. In einigen Gebieten werden die Berechnungen der prädationsbezogenen Mortalität aus Multi-Spezies-Modellen in Einzel-Spezies-Modellen berücksichtigt. Obwohl dies bereits ein Fortschritt ist, reicht es noch nicht aus: Einzel-Spezies-Modelle können nicht die komplexen Rückkopplungen abbilden, die durch Fressfeinde entstehen, jedoch sind gerade diese zur Beurteilung von Managementstrategien besonders wichtig. Warum haben Sie für Ihr Projekt das Tool GADGET ausgewählt? In GADCAP sollte ein Modell entwickelt werden, das ausreichend simpel ist, um die Fischerei im Gebiet der Nordwestatlantischen Fischereiorganisation (NAFO) wissenschaftlich zu unterstützen, aber dennoch die umfassenden Informationen zur Interaktion zwischen Spezies und mit weiteren Elementen, die sich auf die Populationsproduktivität auswirken, bietet. GADGET erfüllt diese Voraussetzungen. Hierbei handelt es sich um ein flexibles Tool, mit dem der Benutzer die simpelsten aber auch die komplexesten Modelle erstellen kann, bei welchen verschiedene Eigenschaften des Ökosystems berücksichtigt werden: eine oder mehrere Arten, von denen jede in mehrere Komponenten untergliedert werden kann; mehrere Gebiete und Migration zwischen diesen Gebieten; Prädation zwischen und innerhalb von Arten; Wachstum; Geschlechtsreife; Fortpflanzung und Nachwuchs; sowie mehrere kommerzielle und wissenschaftliche Flotten, die Proben von diesen Populationen nehmen. Es ist ein prozessbasiertes Modell und ermöglicht die Modellierung verschiedener biologischer und ökologischer Prozesse für jede Population sowie die Definition der Parameter von Untermodellen für Prädation, Wachstum, Geschlechtsreife, das Verhältnis zwischen Länge und Gewicht und Geschlechtswechsel. Von der FAO wurde es als eines der leistungsstärksten Ökosystemmodelle mit der höchsten Leistung für die praktische wissenschaftliche Unterstützung des Fischereimanagements anerkannt. Derzeit wird es in verschiedenen Gebieten wie im europäischen Nordmeer, in der Barentssee und im Golf von Biskaya angewendet. Welche Erkenntnisse haben Sie mit Ihrer Forschung über die Dynamik der Kabeljau-, Rotbarsch- und Garnelenpopulationen an der Flämischen Kappe gesammelt? Als Hauptursachen von starken Schwankungen bei der Biomasse dieser drei Bestände über die Dauer der Untersuchung hinweg konnten wir Überfischung, Prädation und Kannibalismus sowie variablen Fortpflanzungserfolg identifizieren. Bei Garnelen führten Rotbarsch und Kabeljau als Fressfeinde zusammen mit der Fischerei zu einem Zusammenbruch der Population. Der Anteil großer Exemplare im Kabeljaubestand führte, insbesondere seit dem Jahr 2010, zu einer höheren prädationsbezogenen Sterblichkeit beim Rotbarsch, und dies ist offenbar die Hauptursache für deren schrumpfenden Bestand. Das Modell verdeutlichte zudem, dass Kannibalismus sowohl bei jungen Kabeljauen als auch bei jungen Rotbarschen die häufigste Todesursache darstellt und das Wachstum des Bestands stark gefährdet. Außerdem wurde die Bedeutung externer Beutegruppen wie Hyperiidae und Euphausiidae für unausgewachsene oder kleinere ausgewachsene Kabeljaue und Rotbarsche, der Gattung Anarhichadidae für größere ausgewachsene Kabeljaue und der Ruderfußkrebse für Rotbarsche belegt. Diese Ergebnisse legen nahe, dass ein Rückgang bei der Population dieser alternativen Beutegruppen weitreichende Konsequenzen für die Dynamik der kommerziellen Spezies haben könnte, da sich deren Jagdverhalten (und Kannibalismus) verändert. In der langfristigen Prognose wiesen die Gesamtwerte für die Biomasse und den maximalen nachhaltigen Ertrag (maximum sustainable yield, MSY) für jede Spezies, die unter unterschiedlichem Befischungsdruck gesammelt wurden, Muster auf, die auf den negativen Effekt der fischereilichen Sterblichkeit bei Beute- und Raubfischbeständen schließen lassen. In dieser Hinsicht wurden die erwarteten Muster einer Abnahme der Biomasse infolge des steigenden Befischungsdrucks bei allen drei Beständen nachgewiesen. Doch im Gegensatz zu diesen offensichtlichen Reaktionen der Fischbestände, die auch mit Einzel-Spezies-Modellen berechnet werden können, waren die viel interessanteren indirekten Wirkungen nur mit Multi-Spezies-Modellen beobachtbar. Eine davon war beispielsweise eine niedrigere Gesamtproduktion und ein geringerer MSY von Kabeljau aufgrund einer höheren fischereiliche Sterblichkeit bei Rotbarschen und Garnelen. Ursache hierfür ist, dass Kabeljaue verstärkt Kannibalismus betreiben, wenn die Hauptbeute schwieriger zu finden ist. Zudem war interessant, dass die Biomasse und der MSY der Rotbarsche zunahm, als die fischereiliche Sterblichkeit der Kabeljaue infolge der prädationsbezogenen Sterblichkeit stieg. Dasselbe wurde für die Biomasse und den MSY der Garnelen im Kontext des Befischungsdrucks auf Rotbarsche und Kabeljaue belegt. Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Beiträge, die in GADCAP zur Entwicklung des Multi-Spezies-Ansatzes geleistet wurden? Die wichtigsten Beiträge des GADCAP-Projekts bestehen bisher darin, dass klare Beispiele dafür geliefert werden, warum es wichtig ist, bei der Beschreibung und Vorhersage der Populationsdynamik nahrungsbezogene Interaktionen zu berücksichtigen. Wir möchten jedoch in Kürze den Anwendungsbereich des Multi-Spezies-Ansatzes erweitern, indem wir mithilfe des GADCAP-Modells Strategien für das Multi-Spezies-Management bewerten. Wie könnten die Ergebnisse Ihres Projekts das Fischereimanagement an der Flämischen Kappe verbessern? GADCAP ist das erste Multi-Spezies-Modell, das speziell für das NAFO-Gebiet entwickelt wurde. Die Ergebnisse belegen eindeutig, dass es bei der Berechnung sowohl der Größenordnung als auch der Variabilität der natürlichen Sterblichkeit zu erheblichen Fehlern führen würde, die Interaktionen zwischen Kabeljauen, Rotbarschen und Garnelen nicht zu berücksichtigen. Dies würde in den kurzfristigen Prognosen wiederum zu einer Überbewertung der nutzbaren Biomasse und so zu falschen Entscheidungen im Fischereimanagement führen. Zudem wurde auch belegt, dass durch das Größenverhältnis zwischen Raub- und Beutefischen und durch die Dynamik zwischen deren Populationen, die durch Schwankungen bei der Fortpflanzung entsteht, nahrungsbezogene Interaktionen große Auswirkungen haben und nicht nur Interaktionen zwischen Spezies darstellen, sondern auch spezifische, größenmodulierte Interaktionen. Dies sollte unbedingt berücksichtigt werden, wenn die Auswirkungen eines Raubfisches auf den Bestand eines Beutefisches bewertet werden, da die Berechnung der prädationsbezogenen Mortalität ansonsten zu irreführenden Ergebnissen kommen könnte. Daher ist GADCAP der erste Schritt in Richtung eines Ansatzes für das Fischereimanagement im NAFO-Gebiet, bei dem verschiedene Spezies und das gesamte Ökosystem berücksichtigt werden. Was sind Ihre Pläne, jetzt da das Projekt abgeschlossen wurde? Die Entwicklungen des GADCAP-Projekts stellen bei der Modellierung von Populationsdynamiken, der Bestandsbewertung und für Aspekte des Fischereimanagements einen wissenschaftlichen Durchbruch dar. Dies bereichert auch meine Expertise als Biologe und Meeresökologe. Nun bin ich bereit, mich mit Projekten und integrativen Aufgaben hinsichtlich deren umweltbezogenen Aspekte und Management zu befassen, wofür Fachkenntnisse über marine Ökosysteme und deren Modellierung besonders wichtig sind. Daher bin ich vor allem an Projekten interessiert, bei denen ich diese Kenntnisse zum Ökosystemmanagement von Fischereiressourcen anwenden kann. Eine Möglichkeit wäre, die an der Flämischen Kappe begonnene Arbeit mit der Entwicklung eines Bewertungsrahmens für Managementstrategien fortzusetzen, bei dem die in GADCAP entwickelten Multi-Spezies-Modelle einen zentralen Bestandteil bilden. Wie sieht es mit anderen Fischfanggebieten aus? Planen Sie, auch an anderen Orten Europas zu arbeiten? Ja, der Multi-Spezies-Ansatz für das Fischereimanagement ist relativ neu und wurde nur auf eine begrenzte Anzahl von Systemen angewendet. Wie bereits erwähnt liefert der Multi-Spezies-Ansatz in Systemen, in denen Wechselwirkungen zwischen mehreren Spezies – insbesondere prädationsbezogene Interaktionen – eine Rolle spielen, Einblicke in die Dynamik der Bestände, die der Einzel-Spezies-Ansatz nicht bieten kann. So können im Fischereimanagement mit dem Multi-Spezies-Ansatz ernste Fehlentscheidungen verhindert werden. Daher ist die Entwicklung eines solchen Ansatzes in Systemen, für die ausreichend Daten verfügbar sind, immer interessant, und ich möchte gerne dazu beitragen, sei es direkt oder indirekt. Diese Ökosysteme könnten sich in europäischen Gewässern sowie in internationalen Gebieten befinden, an denen die EU als Vertragspartner interessiert ist und bei denen ihr bei der Definition von Managementansätzen eine wichtige Rolle zukommt (wie es im NAFO-Gebiet der Fall ist). GADCAP Gefördert unter FP7-PEOPLE Projektseite auf CORDIS
Länder
Norwegen