App entschlüsselt den Kohlenhydratgehalt von Lebensmitteln
Auf manchen Lebensmitteln ist die enthaltene Menge von Kohlenhydraten angegeben, auf anderen nicht. Doch in beiden Fällen bleiben der Einkauf, die Zubereitung und die korrekte Berechnung des benötigten Insulins für Diabetiker ein echtes Problem, selbst mithilfe der vielen Ratgeber und Vorgehensweisen, die im Internet zu finden sind. Doch dies könnte sich mit einigen Fingertipps auf dem Bildschirm eines Smartphones bald ändern. Haben Sie je in einem feinen Restaurant ein Foto von einem köstlichen Gericht aufgenommen? Die Mitglieder des von der EU unterstützten Projekts GOCARB (Type 1 Diabetes Self-Management and Carbohydrate Counting: A Computer Vision based Approach) planen, mit dieser Praxis die Lebensqualität für Menschen mit Diabetes zu steigern. Aus dem bloßen Bild einer Mahlzeit kann die GOCARB-App genaue Informationen über die enthaltene Menge von Kohlenhydraten ziehen. „In einem typischen Szenario platziert der Benutzer ein Referenzobjekt von der Größe einer Kreditkarte neben der Mahlzeit und schießt zwei Fotos mit seinem Smartphone. Das erste Bild wird senkrecht über dem Teller in 30–40 cm Höhe aufgenommen, das zweite in einem Winkel von etwa 20 Grad zur vertikalen Achse, die durch die Mitte des Tellers verläuft“, erklärt Dr. Stavroula Mougiakakou, Koordinatorin des Projekts an der Universität Bern. „Die verschiedenen Lebensmittelobjekte auf dem Teller werden automatisch ermittelt, segmentiert und erkannt, während ihre Form dreidimensional rekonstruiert wird. Anhand der Form, der Segmentierungsergebnisse und des Referenzobjekts wird dann das Volumen jedes Objekts eingeschätzt. Abschließend wird der Kohlenhydratgehalt errechnet, indem die Lebensmittelart mit dem Volumen kombiniert und eine Nährwerte-Datenbank abgefragt wird.“ GOCARB könnte den Alltag für Menschen mit Diabetes grundlegend verändern, die vor jeder Nahrungsaufnahme die zum Ausgleich erforderliche Insulindosis bestimmen müssen. „In einer aktuellen Studie wurde gezeigt, dass zahlreiche Erwachsene mit Typ-1-Diabetes ihren prandialen Insulinbedarf falsch berechnen, selbst erfahrene Diabetiker“, merkt Dr. Mougiakakou an. „Diese Berechnungen sind komplex und zeitaufwändig, da der Kohlenhydratgehalt der Mahlzeit, die Glukosekonzentration vor der Nahrungsaufnahme, das Verhältnis zwischen Insulin und Kohlenhydraten, die Insulinempfindlichkeit und der aktuelle Insulinspiegel des Patienten berücksichtigt werden müssen. Eine ungenaue Kohlenhydratberechnung kann zu einer Unter- oder Überschätzung des notwendigen prandialen Insulins führen, was wiederum eine unphysiologische postprandiale Hyper- oder Hypoglykämie oder eine schlechte Blutzuckerkontrolle bedeutet. In klinischen Studien wurde belegt, dass sich schon eine Abweichung von ±20 g bei der Kohlenhydratberechnung erheblich auf den postprandialen Blutzuckerspiegel auswirkt.“ Obwohl die App mit dem Arbeitstitel „m-Health“ noch nicht öffentlich verfügbar ist, wurde sie bereits von 19 erwachsenen Freiwilligen mit Typ-1-Diabetes auf Genauigkeit und Benutzerfreundlichkeit geprüft. Jeder Tester erhielt sechs Gerichte, die von den Restaurants des Universitätsspital Bern aus mehreren gemischten Lebensmitteln zubereitet wurden. Die Freiwilligen wurden dann gebeten, den Kohlenhydratgehalt zunächst auf herkömmliche Weise und anschließend erneut mithilfe der GOCARB-App zu berechnen. Die Tester füllten nach jeder Sitzung einen Fragebogen aus, um ihren Eindruck dazulegen. „Die präklinischen Studien zeigten, dass das System den Kohlenhydratgehalt einer Mahlzeit genauer bestimmen kann als die Patienten selbst. Darüber hinaus belegen die von den Teilnehmern gesammelten Rückmeldungen, dass das System einfach zu verwenden ist – selbst für Menschen, die kein Smartphone besitzen“, sagt Dr. Mougiakakou. Bei der Entwicklung des GOCARB-Systems strebten die Projektmitglieder einen Fehlerbereich von unter 20 g und eine möglichst einfach gehaltene Bedienung an. Dies wurde durch einen visuellen Datensatz von über 5.000 Bildern ermöglicht, die ein breites Spektrum von nicht abgepackten mitteleuropäischen Speisen mit verschiedenen Formen abdecken. Für die Berechnungen setzt das System lediglich voraus, dass der Teller rund ist, die Lebensmittel nicht verdeckt sind und nur ein Teller im Bild ist. Anwendbarkeit über Diabetes hinaus Das Team untersucht nun, ob sich das System zur Verbesserung der Blutzuckerkontrolle eignet. An der Universität Bern wird unter Leitung der Universitätspoliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung eine klinische Studie durchgeführt. Als Probanden nehmen Personen mit Typ-1-Diabetes teil, die unter sensoraugmentierter Insulinpumpentherapie stehen. „Wir warten bereits gespannt auf die Ergebnisse dieser Studie“, sagt Dr. Mougiakakou enthusiastisch. Wie steht es mit der zukünftigen Vermarktung? „Als akademische Forschungsgruppe hat für uns oberste Priorität, die Algorithmen hinter dem System zu optimieren, um dessen Genauigkeit zu verbessern“, merkt Dr. Mougiakakou an. „Die Umwandlung des entwickelten Prototyps in ein Produkt ist ein Thema, das wir bereits mit unseren Partnern aus der Industrie und dem Gesundheitswesen besprechen und dem wir uns widmen werden, sobald das System die Anforderungen der Benutzer erfüllt. Angesichts der vielversprechenden Ergebnisse, die bis heute erzielt wurden, würde ich optimistisch von einer Vermarktung in naher Zukunft ausgehen.“ Dr. Mougiakakou sieht außerdem das Potential der App jenseits der Anwendung für Diabetes. So könnte eine ähnliche App entwickelt werden, um die Anzahl der Kalorien oder die enthaltenen Allergene einer Speise zu bestimmen. „Das können wir uns mit Sicherheit vorstellen. Die Einschätzung anderer Makronährstoffe und des Brennwerts ist für Diabetiker ebenfalls relevant, da inzwischen vermutet wird, dass sich auch Fette und Proteine auf das Glukoseprofil auswirken. Daher ist für die Zukunft definitiv eine Erweiterung des Systems auf ein größeres Spektrum von Nährstoffen geplant.“ GOCARB Finanziert unter FP7-PEOPLE. Koordiniert von der Universität Bern in der Schweiz. Projektwebsite
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